»Ich muss nochmal kurz telefonieren«, sagte Dóra zu Matthias und wählte die Nummer von Litla-Hraun. »Ich erkläre dir alles, versprochen.« Als Jónas endlich am Apparat war, kam sie sofort zum Thema. »Jónas, es kann sein, dass ich ein Loch in deine Kellerwand unter dem alten Teil des Hotels schlagen muss. Ich wollte es dich nur wissen lassen. Sonst alles in Ordnung bei dir?«
Dóra, Matthias und Gylfi standen vor der Kellerwand, die nach ihren Berechnungen an die Wiese hinter dem Hotel grenzte. Es hatte unglaublich lange gedauert, bis sie sich einig gewesen waren. Sie hatten Sóley hochgehoben und durch das schmutzige Fenster spähen lassen und somit die Bestätigung erhalten, dass die Wand, die derjenigen auf Birnas Foto ähnelte, auch die richtige war. Matthias legte das Foto beiseite und nahm den Vorschlaghammer.
Gylfi hatte darauf bestanden, mitzukommen, und so waren sie mit Schaufeln hinaus auf die Wiese gegangen, um sich zu vergewissern, dass die Luke wirklich da war, bevor sie im Haus zur Tat schritten. Auch die Mädchen hatten unbedingt mitkommen wollen, froh über die Abwechslung. Die Falltür befand sich in etwa 30 Zentimetern Tiefe direkt hinter dem Stein mit der Inschrift, aber anstatt Zeit damit zu vergeuden, sie vollständig auszugraben, waren sie in den Keller gegangen, um die verborgene Tür zu suchen. Matthias war der Meinung, es sei genauso schwierig, diese jahrzehntelang vom Erdboden bedeckte Falltür zu öffnen wie die andere Luke in Kreppa.
»Was glaubt ihr eigentlich, was ihr dahinter findet?«, fragte Gylfi.
»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung«, antwortete Dóra. »Die Vorkehrungen hier unten lassen allerdings darauf schließen, dass jemand die Leute fernhalten wollte. Es gibt keinen Grund, eine Tür zu einem Kellerloch so zuzumauern. Man hätte sie auch anders versperren können, ohne sie zu verstecken.«
»Und wenn da nichts ist«, hakte Gylfi nach, »wie reagiert dann der Typ, dem das alles hier gehört?«
»Gar nicht«, sagte Dóra. »Ich hab ihn informiert, und schlimmstenfalls hat er anschließend ein paar Quadratmeter mehr.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Nun mach schon!«
Gylfi und Matthias ließen sich das nicht zweimal sagen und begannen, gegen die Wand zu hämmern. Dóra und die Mädchen standen dabei und beobachteten sie erwartungsvoll, aber bald wurde klar, dass es so schnell nichts zu sehen geben würde. Eine gute halbe Stunde später war das Loch durch Mörtel, Holz und Steinmauer groß genug, um hindurchzuklettern. Schwitzend und schmutzig standen Matthias und Gylfi mit hochgekrempelten Ärmeln davor und schnappten nach Luft.
»Ich gehe zuerst rein«, erklärte Dóra. »Da drinnen ist aber schon furchtbar schlechte Luft. Ist das Brandgeruch?«
»Ich gehe«, erwiderte Gylfi. Dóra kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er das nicht ernst meinte.
»Matthias, geh du vor!« Dóra schob ihn zu dem Durchgang. »Wo ist die Taschenlampe?«
Nachdem sich alle drei durch das Loch gequetscht hatten, folgten Dóra und Gylfi Matthias durch den düsteren Gang. Vom schwachen Schein der Taschenlampe profitierte nur Matthias, und Mutter und Sohn prallten gegen ihn, als er am Ende des Gangs vor einer Tür stehen blieb. Er drehte sich zu ihnen um und beleuchtete die Tür. »Soll ich aufmachen?«
Sie hätten besser nein gesagt.
»Und das war natürlich purer Zufall, genauso wie mit dem Foto?« þórólfur runzelte die Stirn. »Ihr wart zufällig mit Vorschlaghämmern bewaffnet im Keller und hattet den Eindruck, es sähe besser aus, wenn da unten eine Wand weniger wäre?«
Dóra pflückte einen Holzsplitter aus ihrem Haar. »Nein, ich dachte, ich hätte mich einigermaßen klar ausgedrückt. Wir wollten sichergehen und euch nicht mit irgendwelchem Quatsch belästigen und Steuergelder verpulvern. Es gab keinen anderen Weg, um festzustellen, was sich da unten befindet. Ich muss gestehen, dass ich damit nicht gerechnet habe.« Sie schüttelte sich, als zwei Kripo-Männer mit Schubladen voller Knochen an ihnen vorbeikamen. Ein intensiver Brandgeruch folgte ihnen. Im Hotel wimmelte es von Polizisten, die aus den benachbarten Bezirken beordert worden waren, sowie von speziell ausgebildeten Fachleuten aus Reykjavík. Dóra hatte den Eindruck, dass die wenigsten wirklich etwas zu tun hatten und die meisten nur aus Neugier gekommen waren. Sie verzog das Gesicht. »Wie gesagt, ich hab nicht damit gerechnet, das Skelett eines Kindes zu finden. Und auch nicht, in einem mannshohen Berg von Knochen zu landen.«
»War dir denn nicht klar, dass es sich um Tierknochen handelt?«, fragte þórólfur. »In der Dunkelheit da unten war das vielleicht nicht so ganz einfach.«
»Die Knochen, die ich als Erstes gesehen habe, waren nicht von einem Tier«, sagte Dóra entschieden. »Bevor der Berg eingestürzt ist, hat der Schein der Taschenlampe einen kleinen Wollhandschuh beleuchtet. Direkt unter dem Bündchen war ein Knochen zu sehen — da muss ein totes Kind liegen. Es war definitiv eine Hand in einem Handschuh. Sie ragte aus dem Berg heraus, bevor er zusammenfiel, also wird sie zum Vorschein kommen, wenn die anderen Knochen abgetragen sind. An deiner Stelle würde ich die Männer bitten, vorsichtig zu sein, denn da unten …« Sie beendete den Satz nicht.
»Wie du vielleicht siehst, arbeiten wir sehr sorgfältig«, entgegnete þórólfur und sah sich um. »Egal, ob wir nun Menschenknochen finden oder nicht. Wir müssen herausfinden, was da vor sich gegangen ist. Es ist völlig unüblich, halbverbrannte Tierkadaver auf diese Weise zu verscharren. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass wir irgendwelche Beweise zerstören. Du solltest dir lieber Sorgen um Jónas machen, denn das Ganze ändert nichts an seiner möglichen Schuld.«
»Und wenn ich dir sage, dass da unten seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs das uneheliche Kind von Magnús Baldvinsson liegt?«
»Ändert das was?«, fragte þórólfur beiläufig, obwohl sein Interesse zweifellos geweckt war. »Oder meinst du etwa, er hat sein eigenes Kind umgebracht und anschließend Dutzende von Tieren getötet und drübergeschmissen?« Er grinste. »Und dann kommt er sechzig Jahre später zurück und macht da weiter, wo er aufgehört hat?«
»Du musst selbst wissen, wie du das interpretierst, aber die Vaterschaft wird sich doch wohl beweisen lassen durch eine DNA-Untersuchung. Und ich glaube, Magnús Baldvinsson wird am Ende schlecht dastehen.«
»Du vertrittst also immer noch die Theorie, Magnús oder Baldvin hätten Birna und Eiríkur umgebracht?«, fragte þórólfur.
Dóra entfernte noch mehr Schmutz aus ihrem Haar. »Es könnte auch Bergur gewesen sein — oder seine Frau, gemeinsam mit ihm oder jemand anderem«, sagte Dóra und erzählte, was Matthias und sie zuvor über das Gewehr, den Fuchs und Eiríkurs sonderbare RER-Inschrift besprochen hatten. »Wir haben gesehen, wie sie mit einem Kellner, der hier arbeitet, das Hotel verlassen hat. Es wirkte sehr innig«, sagte Dóra. »Wir dachten, Rósa könnte ihn verführt und dazu gebracht haben, Birna zu töten. Aus Rache für den Seitensprung ihres Mannes.«
þórólfurs Brauen zuckten hoch bis unter den Haaransatz. »Du hast Bergurs Ehefrau doch kennengelernt. Hältst du sie für eine unwiderstehliche Verführerin?«
»Nein, nicht unbedingt«, erwiderte Dóra. »Aber die Geschmäcker sind verschieden, also kann man nie wissen.«
þórólfur grinste süffisant. »Heißt dieser Kellner vielleicht Jökull Guðmundsson?«
»Ja«, antwortete Dóra verwundert. »Ich kenne seinen Nachnamen nicht, aber er heißt Jökull. Wusstest du, dass sie was miteinander haben?«
þórólfur grinste. »Sie sind Geschwister. Das erklärt vermutlich die vertraute Umgangsweise.«
Dóra sagte nichts. Jetzt verstand sie Jökulls Abneigung gegen Birna. Sie beruhte ausschließlich darauf, dass sein Schwager seine Schwester mit ihr betrog. Und es erklärte auch seine Reaktion auf ihre Frage nach Steini. Sein Vater hatte den Unfall verursacht, und er reagierte offenbar genauso empfindlich auf dieses Thema wie seine Schwester. »Aha«, sagte sie. »Das ändert das Bild ein wenig.«
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