Dóra nickte. Keine Mutter, die noch bei Verstand ist, würde ihr Kind im freien Gelände begraben, wenn ein Friedhof in der Nähe war. Kristín musste ihre Mutter überlebt haben. Sie wollte der Frau nicht von den in den Balken eingeritzten Worten erzählen — dass Kristín ermordet worden war. Für die alte Frau war es besser, zu glauben, Kristín sei noch am Leben. Daher wechselte Dóra das Thema. »Weißt du, was für ein Haus hinter diesem hier stand? Es muss vor sehr langer Zeit abgebrannt sein.«
»Ein Haus?«, sagte Lára verdutzt. »Hier stand nur ein Haus, und das existiert immer noch, es ist nur in das neue Hotel integriert worden.« Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Es sei denn, du meinst die Scheune«, sagte sie plötzlich. Sie drehte den Kopf und suchte an der Rückseite des Hotels nach einem Fenster, fand aber keins. »Hinter dem Haus standen die Scheune und der Stall. Vielleicht sind die abgebrannt, aber das muss passiert sein, bevor ich zurückgekommen bin, ich kann mich nämlich nicht an einen Brand erinnern. Ich könnte auch nicht mehr sagen, ob die Gebäude noch standen, als ich wieder hier war.«
»Ich weiß, dass das vielleicht merkwürdig klingt, aber erinnerst du dich an den Kohlenkeller in Kreppa?«, fragte Dóra. »Er ist in den Boden gegraben, und man gelangt durch den Keller im Haus und durch eine Falltür in der Wiese hinein.«
Lára grübelte. »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ist das wichtig?«
»Was sind denn das für Typen?«, platzte Sóldís auf einmal heraus, bevor Dóra antworten konnte. »Wissen die etwa nicht, dass man hier nicht campen darf? Das steht auf dem großen Schild am Abzweig. Hier ist Naturschutzgebiet!« Sie zeigte nach draußen.
»Oh, nein«, entfuhr es Dóra. Durch die Glastür sah sie ihren Jeep samt Wohnwagen über den Parkplatz ruckeln.
Der Wohnwagen stand quer auf dem Parkplatz. Dóra beobachtete, wie Gylfi aus dem Geländewagen stieg und seiner kleinen Schwester und Sigga, die auf dem Rücksitz saßen, die Tür aufhielt. Offenbar hatte er verhindern wollen, dass seinem ungeborenen Erben im Falle einer Kollision durch den Airbag Schaden zugefügt würde. Wenn es um Sicherheitsfragen ging, ließ Gylfi nichts auf sich kommen — abgesehen davon, dass er ohne Führerschein fuhr. Sigga reckte sich beim Aussteigen, und der Babybauch wirkte dabei an ihrem zierlichen Körper noch grotesker. Sie überlegte, wie sie die drei wieder in die Stadt verfrachten könnte, bis ihr einfiel, dass es kurz vor zehn Uhr abends war und somit zu spät, einen Chauffeur zu organisieren. »Warum seid ihr nicht mit eurem Vater gefahren?«, rief sie Gylfi zu, während sie ihnen über den Parkplatz entgegenmarschierte. »Er sollte euch in Selfoss abholen.«
»Nur so«, sagte Gylfi und verriegelte gewissenhaft den Wagen. »Wir wollten alle nicht zu ihm nach Hause oder zu Siggas Eltern, deshalb haben wir beschlossen, weiter zu campen. Ich hab’s Papa erzählt, damit er nicht ausflippt, falls du deswegen irgendwie sauer auf ihn bist.«
Darum machte sich Dóra die geringsten Sorgen. Hannes konnte so eingeschnappt sein, wie er wollte, ohne dass sie das in irgendeiner Form störte. Allerdings machte sie sich Sorgen darüber, wie sie sich um Jónas, Matthias, ihre beiden Kinder und ihre hochschwangere Schwiegertochter kümmern sollte, ohne etwas zu vermasseln — oder alles zu vermasseln. »Wie geht’s dir denn, Sigga?«, sagte sie zu dem schwangeren Mädchen, während sie Sóley in den Arm nahm, die sich glücklich lächelnd an ihre Mama schmiegte.
»Ach, geht so«, antwortete Sigga. »Mein Rücken tut weh.«
Dóra spürte, wie sich ihr Gesicht vor Entsetzen verzog. »Glaubst du, das Kind kommt schon?«, fragte sie. »Dann könnt ihr nicht hierbleiben.«
»Nein, Mama«, sagte Gylfi empört. »Sie ist noch nicht am Ende des neunten Monats.«
Von Frühgeburten hatte Gylfi offenbar noch nie etwas gehört. »Kommt rein«, sagte Dóra und schob die Schar zum Eingang. »Über deine Autofahrt reden wir noch, Gylfi, aber das muss warten«, flüsterte sie ihrem Sohn ins Ohr. »Ich bin total sauer auf dich.« Dann fügte sie laut hinzu: »Ich schaue mal, ob ich ein Zimmer für euch bekomme. Genug gecampt.« Matthias stand lächelnd im Türrahmen. Dóra schnitt eine Grimasse, die nur er sehen konnte. »Kinder, ihr erinnert euch bestimmt an Matthias. Er hilft mir bei einem Fall, der mit dem Hotel zu tun hat. Ihr müsst ganz brav sein, ich muss arbeiten. Ihr rührt euch nicht von der Stelle und macht nichts kaputt.« Sie war kurz davor, hinzuzufügen »und bringt nichts zur Welt«, schluckte es aber im letzten Moment hinunter. Die beiden ersten Punkte waren schon schwierig genug.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Matthias, nachdem sie sich in Jónas’ Büro vor den Computer gesetzt hatten. »Es ist alles in Ordnung. Ich mag deine Kinder. Ich habe mir meinen Urlaub zwar etwas anders vorgestellt, aber er wird bestimmt unvergesslich.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Vielleicht findest du ja in Reykjavík einen Babysitter, damit wir mal in ein Restaurant gehen können, wo nicht nur biologisch angebaute Produkte angeboten werden.«
Dóra löste ihren Blick vom Bildschirm. »Warum sind die Volksmärchen von Jón Árnason bloß nicht im Internet zugänglich?«, nörgelte sie.
»Darf ich das als Ja interpretieren?«, fragte Matthias.
»Was?«, geistesabwesend scrollte Dóra weiter über die Homepage. »Ja, ja«, fügte sie hinzu, obwohl sie keine Ahnung hatte, worauf sie sich gerade einließ. »Egal wo ich suche, ich finde nie die eigentliche Geschichte, nur den Vers. Ich müsste in eine Bibliothek.«
Matthias schaute auf die Uhr. »Das wirst du kaum mehr schaffen. Glaubst du wirklich, dass die Inschrift auf dem Stein eine Rolle spielt?«
Dóra blickte vom Bildschirm zu ihm. »Nein«, antwortete sie knapp. »Ich brauche einfach einen Strohhalm für morgen und weiß nicht, wo ich suchen soll.«
»Falls Bergur oder seine Frau die Morde begangen hat, dann glaube ich nicht, dass dieser Stein irgendwas mit der Sache zu tun hat«, meinte Matthias. »Es wäre vernünftiger, sich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht ganz so lange her sind.« Matthias trat ans Fenster und beobachtete ein Auto, das sich dem Hotel näherte. Es rollte bis ans Haus und hielt direkt unterhalb des Fensters an. Die Scheinwerfer gingen aus, und der Motor erstarb. »Die Autonummer kenne ich doch!«, rief Matthias und ließ die Gardine los. »Wo ist die Liste?«
Dóra schaute ihn ungläubig an. »Willst du etwa behaupten, du würdest eine Nummer von Tausenden wiedererkennen?«, fragte sie und reckte sich nach der Liste mit den Kennzeichen.
»Es ist ein persönliches Kennzeichen«, antwortete Matthias. »Davon gab es nicht viele, deshalb ist es mir aufgefallen.« Er blätterte durch die Liste. »Hier ist es. Eine Stunde, bevor Eiríkur ermordet wurde, ist dieser Wagen von Reykjavík aus durch den Tunnel gefahren.« Er gab Dóra die Liste zurück und zeigte auf einen Eintrag. »Da! VERITAS«, sagte er. »Ich erinnere mich genau daran, weil es in Deutschland nur standardmäßige Städtekennzeichen gibt, keine individuellen wie bei euch, und weil ich über den Beruf des Besitzers nachgedacht habe. Das Einzige, was mir in Verbindung mit der Wahrheit eingefallen ist, war Mathematik.«
Dóra nahm die Liste entgegen und las den Namen des Eigentümers. »Knapp daneben«, sagte sie und legte das Blatt beiseite, »es ist ein Politiker. Baldvin Baldvinsson, der Enkel des alten Magnús, mit dem wir gesprochen haben.« Dóra stand auf. »Was will der denn schon wieder hier?«
»Vielleicht seinen Großvater besuchen?«, schlug Matthias vor. »Oder er ist auf Stimmenfang?«
»Wir fragen ihn einfach«, sagte Dóra. »Dem Nummernschild nach zu urteilen, wird er uns nichts als die Wahrheit sagen.«
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