Lára seufzte betrübt. »Ja, leider. Bjarni hatte eine Vorliebe dafür. Man muss allerdings bedenken, dass er nach dem Tod seiner Frau Aðalheiður, so um 1930 nicht mehr derselbe war. Sie bedeutete alles für ihn. Man könnte sogar sagen, dass ihm durch den Verlust sein Verstand und sein Urteilsvermögen abhanden kamen.« Die alte Dame lächelte verschmitzt. »Allerdings hat er auch profitiert von seinen Marotten. Ungefähr gegen Kriegsbeginn begann Bjarni, in abenteuerliche Dinge zu investieren, und das Glück war mit ihm. Es war ja nur Zufall, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land durch den Krieg schlagartig besserten, durch die Besatzung und den Bevölkerungszuwachs. Grímur hatte hingegen nie so viel Glück, er vertrat immer die Stimme der Vernunft.«
»Ist er bankrottgegangen?«, fragte Dóra.
»Nein, so schlimm kam es nicht, aber ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt. Er war Arzt, aber da es hier in der Gegend einen Gemeindearzt gab, hatte er nicht genug zu tun und verlegte sich immer mehr auf die Landwirtschaft. Am Ende gab er den Arztberuf auf und versuchte, den Hof zu vergrößern, aber dann fand er keine Arbeitskräfte. Alle waren nach Reykjavík gegangen, wo man bessere Löhne bei den Besatzern bekam. Bjarni hat seinen Bruder schließlich vor dem Bankrott gerettet, seine Ländereien aufgekauft, ihm aber trotzdem erlaubt, weiter zu wirtschaften, so als hätten sich die Besitzverhältnisse gar nicht geändert. Bjarni hat das getan, obwohl die Brüder kein gutes Verhältnis mehr hatten, und Grímur ist es sicherlich schwergefallen, die Hilfe anzunehmen. Zu allem Überfluss starb dann auch noch Grímurs Frau Kristrún bei der Geburt ihrer kleinen Tochter. Kristrún war gemütskrank, daher kannte ich sie kaum. Sie ging nicht viel unter Leute.« Die alte Frau machte eine Pause. »Was die Nazis angeht, da bekam Bjarni Besuch von Leuten aus Reykjavík, die ihn unbedingt zu einer Art Anführer der isländischen Nationalbewegung im Westland machen wollten. Er sollte junge Männer für eine politische Bewegung hier im Bezirk anwerben. So etwas gab es schon im Südland und ich glaube auch im Norden, obwohl sie nie richtig Rückenwind hatten.«
»Und hat er es gemacht?«, fragte Dóra. »Ist er ihnen beigetreten und hat Leute angeworben?«
»Er hat damit angefangen. Sogar ziemlich erfolgreich.« Lára lächelte erneut. »Allerdings interessierten sich die jungen Burschen weniger für die Ideologie, für die Bewegung oder für das Hakenkreuz als für Bjarnis Tochter Guðný.«
Die alte Dame schaute verträumt vor sich hin. »Sie war so hübsch. Ein hübsches kleines Mädchen und eine hübsche junge Frau. Genau wie ihre Mutter. Die jungen Burschen aus dem Bezirk konnten ihre Augen nicht von ihr abwenden, als sie ins Teenageralter kam. Sie haben wirklich jede Gelegenheit ergriffen, zu ihr nach Hause zu kommen, selbst wenn sie dafür den einen oder anderen Abend so tun mussten, als seien sie Nationalisten. Ich weiß nicht, ob sie auch nur die geringste Ahnung hatten, was Nationalsozialismus war. Sie wollten einfach in Guðnýs Nähe sein.«
»Hat sie denn an diesen Treffen teilgenommen?«
»Nein, meine Liebe«, antwortete die Alte. »Sie hat Kaffee gekocht und die Gäste bedient. Ich musste ihr manchmal helfen. Wir haben die jungen Burschen ausgiebig gemustert und heimlich über sie gekichert.« Láras Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an, und sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es geendet hätte, aber der liebe Gott griff ein, und es kam, wie es kam.«
»Meinst du die Tuberkulose?«, fragte Dóra.
»Ja, unter anderem«, sagte sie. »Bjarni wurde krank und zog sich zurück — und somit auch Guðný.« Sie seufzte. »Ich bin ungefähr zur selben Zeit mit meiner Tante in die Stadt gezogen und habe deshalb, bis auf ein paar Briefe, den Kontakt zu ihr verloren. Das ganze Nazigetue fiel in sich zusammen.«
»Was hältst du von den Gerüchten, Bjarni hätte Guðný missbraucht?«
Lára schaute Dóra in die Augen. Sie holte tief Luft und löste ihren Blick wieder. »Gott, wie lange das her ist. Aber ich habe in der letzten Zeit viel an Guðný gedacht.« Sie zeigte auf Sóldís, die neben ihnen wild auf ihrem Kaugummi herumkaute und sie aufmerksam beobachtete. »Als Sóldís anfing, hier zu arbeiten, ist mir das alles wieder eingefallen.« Sie zögerte, sah Dóra dann aber scharf an. »Ich glaube, dass Bjarni seine Tochter nie angerührt hat. Er war ein guter, wenn auch seltsamer Mann, und aus ihren Briefen konnte man lesen, wie gern sie ihn hatte.« Sie schaute zu Boden. »Aber es ist trotzdem etwas passiert. Nachdem Guðný erkrankt war, wurden die Briefe kürzer, aber sie vertraute mir dennoch in ihrem letzten Brief ein Geheimnis an. Sie schrieb, sie hätte ein Kind bekommen. Diesen Brief schrieb sie kurz nachdem ihr Vater gestorben und das Kind vier Jahre alt war. Sie schrieb, sie hätte sich nicht getraut, es mir früher anzuvertrauen. Damals galt so etwas als furchtbare Schande. Sie war erst sechzehn, als das Kind gezeugt wurde. Den Vater des Kindes erwähnte sie mit keinem Wort, schrieb nur, sie würde mir die ganze Geschichte später erzählen. Aber dazu kam es nie, denn als Nächstes hörte ich, sie sei gestorben.«
»Wer hätte der Vater sein können?«, fragte Dóra.
»Da kommen nicht viele in Frage«, antwortete Lára. »Bei Tuberkulose waren die Leute sehr vorsichtig, da die Krankheit hochansteckend ist und es damals keine Heilungsmöglichkeit gab. Die beiden lebten völlig isoliert, nachdem ihr Vater beschlossen hatte, zu Hause zu bleiben und nicht in die Stadt zu gehen. Sie wollte ihn nicht allein lassen, und so kam es, wie es kommen musste. Der einzige Mensch, der die beiden besuchte, war Bjarnis Bruder Grímur. Ich hatte ihn immer in Verdacht, Guðný missbraucht zu haben, obwohl man so was nicht sagen soll, wenn man keine triftigen Beweise hat. Außer vielleicht, dass er kein guter Mensch war.«
»Was wurde aus dem Kind?«, fragte Dóra. »War es ein Mädchen oder ein Junge?«
»Ein Mädchen. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Als ich wieder herzog, schien niemand sie gekannt zu haben. Der Pastor, der sie höchstwahrscheinlich getauft hat, war gerade verstorben, und alle Leute, die ich fragte, hatten nie ein Kind gesehen. Obwohl einige wussten, dass Guðný Waren bestellt hatte, die nur damit zu erklären waren, dass ein Kind auf dem Hof lebte. Es hieß, das Kind sei gestorben, ausgesetzt worden oder an Tuberkulose erkrankt, wie seine Mutter. Der Klatsch über Inzest ging erst los, als beide, Guðný und Bjarni, tot waren. Vielleicht haben meine Bemühungen, dieses Kind ausfindig zu machen, den Klatsch sogar losgetreten.«
»Hast du mit Grímur darüber gesprochen?«
»Ich hab’s versucht, aber er wollte nicht mit mir reden. Kurz nachdem ich wieder hier war, ist er nach Reykjavík gezogen. Niemand wollte mir helfen, etwas herauszufinden; über Inzest sprach man einfach nicht — es galt als große Schande.«
»Wie hieß das Mädchen? Weißt du das?«, fragte Dóra.
»Kristín. In dem Brief nannte sie die Kleine Kristín«, antwortete Lára. »Ich habe überall nach einem Grabstein mit diesem Namen gesucht, aber keinen gefunden. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist.«
»Kristín«, sagte Dóra. »Dann gab es sie also doch.«
»Gab?«, sagte Lára. »Ich habe immer noch die Hoffnung, dass sie lebt. Ich habe immer geglaubt, dass Guðný sie heimlich bei guten Leuten untergebracht hat. Weil sie nicht wollte, dass die Leute Kristín wegen der Ansteckungsgefahr aus dem Weg gehen. Möglicherweise hatte sie das schon seit der Geburt des Kindes beabsichtigt und Grímur darum gebeten, die Geburtsurkunde nicht an die Behörden zu schicken oder sie irgendwie zu fälschen. Ich gehe davon aus, dass das Kind in Grímurs Obhut kam, denn als es geboren wurde, war jeglicher Kontakt zu Guðný und ihrem Vater gefährlich.« Láras Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Guðný war gottesfürchtig. Für sie wäre nie etwas anderes in Frage gekommen, als dass ihr Kind auf einem Friedhof beerdigt wird und zwar auf dem da hinten. Deshalb glaube ich, dass das Kind überlebt hat.«
Читать дальше