Dóra konnte nur den Kopf schütteln.
»Na klar, liegt doch auf der Hand: Du erzählst den Verkäufern, hier sei eine Frau umgekommen und es gäbe Gerüchte, dass der Geist dabei eine maßgebliche Rolle gespielt hätte. Die ganze Geschichte würde vor Gericht noch einmal aufgerollt. Ich glaube nicht, dass diese Leute Interesse daran haben, mit einem Mordfall — wenn auch nur indirekt — in Verbindung gebracht zu werden. Würdest du gerne als Zeuge in einem Mordprozess aussagen, bei dem die Verteidigung durchblicken lässt, du hättest Informationen zurückgehalten, die zu dieser schrecklichen Tat geführt hätten?« Jónas schüttelte an Dóras Stelle den Kopf. »Nein, daran hättest du kein Interesse. Und sie auch nicht. Vielleicht führt das dazu, dass sie über Schadenersatz verhandeln.«
Dóra fiel ihm ins Wort. »Was spielt es eigentlich für eine Rolle für dich, Schadenersatz zu bekommen? Du hast das Hotel schließlich schon gebaut — du willst den Kauf doch wohl nicht rückgängig machen? Wenn du das mit diesem Geist wirklich ernst meinst, wirst du ihn kaum vertreiben können.«
Jónas lächelte. »Das kann ich natürlich nicht. Aber ich muss mich darauf einstellen, die Löhne meiner Angestellten zu erhöhen, damit sie nicht abhauen. Das sind spirituelle Menschen. Sensibel für übernatürliche Phänomene. Ich mache mir jetzt schon Sorgen, weil einige angedeutet haben, kündigen zu wollen. Meine Betriebspläne sind durcheinandergeraten, und es ist gut möglich, dass der kleine Gewinn, den ich mir erhofft habe, auf und davon ist. Auch die Gäste sind sensibel. Sie sind nicht gewillt, mit Wesen aus dem Jenseits konfrontiert zu werden. Zumindest nicht, wenn es sie das Leben kosten kann.«
Das musste Dóra erst mal verdauen. Es widerstrebte ihr, Leute durch alberne Drohungen in einen Mordfall zu verwickeln und zu Verhandlungen zu zwingen. Aber Jónas’ Aussage über die Angestellten ließ sich nicht von der Hand weisen. »Lass mich darüber nachdenken.« Sie wollte aufstehen, hielt jedoch inne. »Du musst mir noch von dem Spuk erzählen. Wie äußert der sich eigentlich?«
Jónas seufzte. »Puh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Am Anfang vielleicht?«, entgegnete Dóra leicht gereizt.
»Ja, das ist wohl am besten«, antwortete Jónas, der sich von Dóra nicht aus dem Konzept bringen ließ. »Wie gesagt, die meisten Mitarbeiter sind wesentlich sensibler als andere Menschen.«
Dóra nickte.
»Es begann damit, dass sie eine unangenehme Präsenz wahrgenommen haben. Ich glaube, der Hellseher Eiríkur war der Erste, der es gespürt hat. Dann haben andere es auch gespürt, und es machte die Runde. Ich war einer der Letzten, dachte zuerst, es wäre Einbildung.« Jónas schaute Dóra ernst an. »Eigentlich ist es unmöglich, Menschen, die kein Empfinden für Übersinnliches haben, so etwas zu beschreiben, aber ich kann dir jedenfalls versichern, dass es alles andere als angenehm ist. Es lässt sich wohl am ehesten mit dem Gefühl vergleichen, verfolgt zu werden. So als säße jemand in einer dunklen Ecke und würde dich beobachten. So ging es mir zumindest.«
Diese Beschreibung bestärkte Dóra nur in ihrer Annahme, dass es sich um Massenhysterie handelte. Jemand hatte mit einer vagen Geschichte angefangen, andere waren gefolgt, und irgendwann war die Einbildung zur Tatsache geworden. »Jónas«, sagte Dóra, »du musst schon etwas konkreter werden. Der Fall ist völlig hoffnungslos, wenn ich den Verkäufern erzählen soll, was du mir gerade gesagt hast. Wir brauchen etwas Handfestes, es reicht nicht, wenn einem ab und zu ein Schauer über den Rücken läuft.«
Jónas schaute sie verstimmt an. »Es ist viel mehr als das. Einen Schauer kann man abschütteln. Dieses Gefühl ist allgegenwärtig. Erdrückend ist vielleicht ein besseres Wort. Fast alle haben nachts ein Heulen gehört. Das Weinen eines Kindes.« Auf einmal triumphierte er. »Und ich hab einen echten Geist gesehen. Sogar mehrmals. Seine Anwesenheit hat sich in der letzten Zeit gemehrt.«
»Und wo hast du diesen Geist gesehen?«, fragte Dóra ungläubig.
»Überwiegend draußen. Hier draußen.« Jónas zeigte zum Fenster, ohne sich umzudrehen. »Ich kann schlecht beschreiben, wo der Geist genau gestanden hat, es war immer neblig, wenn ich ihn gesehen habe. Manche Geister erscheinen nur bei bestimmten Wetterbedingungen, und dieser kommt bei Nebel.«
»Du kannst ihn also nicht detailliert beschreiben?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich weiß nur, dass es ein Mädchen oder eine Frau ist. Das Wesen war viel zu zierlich für einen Mann.« Jónas lehnte sich zurück. »Und einmal hab ich sie in meinem Spiegel gesehen. Ganz eindeutig ein Mädchen. Es ging zwar alles ganz schnell, aber trotzdem.«
»Du hast gesagt, du hättest das Mädchen auf einem Foto wiedererkannt. So schnell kann es also nicht gegangen sein, wenn du dich an ihre Gesichtszüge erinnern kannst.«
»Tja, ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll. Ich hab mir die Zähne geputzt und ein Rascheln gehört. Ich bin erstarrt, hab mich aufgerichtet und dann im Spiegel gesehen, wie das Wesen an der Tür vorbeigehuscht ist. Die Gesichtszüge müssen sich in meinem Unterbewusstsein festgesetzt haben, obwohl ich sie kaum beschreiben könnte, jedenfalls hab ich das Gesicht auf einem der Fotos wiedererkannt.« Jónas öffnete eine Schreibtischschublade und wühlte darin herum, während er weiterredete. »Ich konnte das Bild danach gar nicht mehr in die Hand nehmen. Ich hab’s wieder in die Kiste geworfen und sie zugemacht. Du wirst damit keine Probleme haben, aber ich kann es einfach nicht.«
»Ich glaube nicht, dass es eine spezielle Wirkung auf mich hat«, sagte Dóra und lächelte ihm zu. »Ich würde gerne mit einigen deiner Angestellten über die Sache reden. Zum Beispiel mit diesem Eiríkur.«
»Kein Problem. Er ist im Moment nicht hier, müsste aber morgen zurückkommen.« Endlich fand Jónas den Gegenstand, den er in der Schublade gesucht hatte. Er reichte Dóra einen alten, schweren Schlüssel an einem großen Eisenring. »Das ist der Schlüssel zum alten Keller. Da stehen die Kisten, von denen ich dir erzählt habe. Schau sie dir an. Es gibt ein paar interessante Dinge, die den Spuk erklären könnten.«
Dóra nahm den Schlüssel entgegen. »Erinnere ich mich richtig, dass der andere alte Hof Kreppa heißt?«, fragte sie scheinheilig.
Jónas schaute sie verständnislos an. »Ja, stimmt. Ursprünglich waren es zwei Grundstücke, die zusammengelegt wurden. Der eine Hof hieß Kreppa, der andere Kirkjustétt. Birna hat viele Stunden wegen der geplanten Bautätigkeiten dort verbracht.«
»Ach ja? Warum das?«, fragte Dóra noch neugieriger. »Steht denn der alte Hof noch?«
»Ja, er steht noch an seinem Platz. Ursprünglich wollten wir das neue Gebäude daneben errichten, so ähnlich wie hier, aber Birna gefiel das nicht. Ihr war das Haus zu weit entfernt und in einem zu schlechten Zustand. Du kannst ihn dir morgen ansehen, wenn du willst. Die Schlüssel liegen unter einem Stein vor der Haustür. Es ist ganz nett, sich das Haus anzugucken; das ganze alte Mobiliar ist noch drin.«
»Wie kommt das?«, fragte Dóra. »Beim Verkauf war das Haus doch nicht mehr bewohnt.«
»Keine Ahnung«, antwortete Jónas. »Kann sein, dass inzwischen ein Teil des alten Krempels abgeholt wurde, weil die Schwester …« Jónas suchte nach dem Namen der Frau. Er ließ seinen Zeigefinger kreisen, während er nachdachte.
»Meinst du Elín þórðardóttir? Die dir das Anwesen verkauft hat?«
»Ja, genau!« Jónas’ Zeigefinger kam mitten in der Kreisbewegung zum Stillstand. »Elin, die Schwester. Sie hat vor zwei Monaten angerufen und ausrichten lassen, sie würden den Kram endlich durchforsten. Ich war in der Stadt, deshalb hab ich nicht selbst mit ihr gesprochen, sondern nur eine Nachricht von Vigdís bekommen. Kurz darauf kam dann ihre Tochter und hat gefragt, wo der Schlüssel versteckt sei. Ist vielleicht besser, dass ich die beiden nicht getroffen habe, sonst hätte ich bestimmt das eine oder andere Wort über den Spuk fallen lassen.«
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