»Es ist zwar sehr nett und fraglos Ausdruck der hinlänglich bekannten österreichischen Gastfreundschaft, dass Sie mir das Glas mit dem Weißwein von meinem letzten Besuch vor einem Monat auf dem Tisch haben stehen lassen, Herr Ober, aber meine charmante Begleiterin und auch meine Wenigkeit haben umdisponiert und uns für eine Flasche Ihres köstlichen Wachauer Federspiel-Rieslings entschieden.«
Marie-Claire glaubte für Momente, der Oberkellner würde wagen, das zu sagen, was er offensichtlich auf der Zunge hatte. Doch der Dickbäuchige räusperte sich nur kurz, schluckte konsterniert, räumte das Glas und die zerfledderten Zeitungen ab und murmelte im Weggehen ein halbherziges »’schuldigen’s! Selbstverständlich, wie die Herrschaften wünschen …«
Francis Roundell würdigte den Kellner keines Blickes mehr, wühlte stattdessen in seinem Aktenkoffer, zog einige Dokumente und Zeitungsausschnitte hervor und lächelte Marie-Claire an.
»Teuerste, erzählen Sie, wie war Ihr Abenteuerurlaub? Mit Verlaub gesagt: Erholt sehen Sie nicht gerade aus, was mich nicht sonderlich wundert. Wer durchquert schon freiwillig in einem holprigen Geländewagen die Wüste und nächtigt, umlauert von skrupellosen, wahrscheinlich sogar lüsternen Arabern, in einem Schlafsack unter freiem Himmel, verzehrt verschimmelte Lebensmittel aus Dosen und …«
»Ach, Francis«, lachte Marie-Claire de Vries lauthals los. »Sie sind und bleiben ein unverbesserlich dekadenter Zivilisationsfanatiker. Ich habe nicht die ägyptische Wüste durchquert, sondern nur die Oase Fayoum besucht. Und das auch nicht im Geländewagen, sondern in einem klimatisierten Bus – begleitet von sehr gebildeten und netten ägyptischen Reiseleitern.«
Kaum, dass Marie-Claire ihrem Sicherheitschef ein wenig von ihrem Urlaub in Ägypten erzählen wollte, änderte sich dessen Ton jedoch. In Bruchteilen von Sekunden schwenkte Francis von der erwarteten jovialen Plauderei auf eine berufliche Unterredung um.
»Da Sie ja tunlichst auf die Mitnahme Ihres Handys im Urlaub verzichten und, wie mir bekannt ist, jeglichen Kontakt zur Außenwelt während Ihrer Urlaube verweigern, werden Sie wohl kaum die Zeitungen gelesen haben, Marie-Claire, oder?«
»Nein, Zeitungen habe ich zwei Wochen lang nicht gelesen. Und auch keine Nachrichten gehört oder gesehen. Im Urlaub bin ich weg, weg von zu Hause und weg vom Job. Nur so kann ich wirklich entspannen. Ich bin erst gestern spät am Abend zurückgekommen. Was ist denn so Wichtiges geschehen, dass Sie mich gleich am ersten Tag besuchen?«
»Gestern früh wurde einer unserer renommierten Kunden auf seinem Schloss in Bayern überfallen, beraubt – und seine Frau vergewaltigt. Die Täter haben einen der berühmtesten Diamanten des Abendlandes entwendet – und zwar nur diesen einen Diamanten: den Kleinen Sancy!«
Marie-Claire de Vries starrte den Sicherheitschef ungläubig an.
»Das ist ja grauenhaft. Sie sprechen von Freiherr von Hohenstein und seiner Frau?«
»Ja, Marie-Claire. Was da geschehen ist, ist grauenhaft. Es waren sehr brutale Täter. Und sie wussten ganz genau, was sie wollten. Weder Bargeld noch andere Wertsachen haben sie geraubt. Dabei hätten sie Schmuck für gut acht Millionen Euro mitnehmen können. Ihr Interesse galt jedoch nur einem einzigen Brillanten – dem Kleinen Sancy!«
»Die haben Schmuck im Wert von acht Millionen Euro nicht angetastet? Das ist aber höchst sonderbar!«
»Sie sagen es, Marie-Claire, Sie sagen es. Aber es kommt noch verrückter! Nur wenige Stunden später wurde eine Vitrine im Palazzo Pitti in Florenz in die Luft gejagt.«
»Was?« Maria-Claire schüttelte entsetzt den Kopf und starrte ihren Sicherheitschef an. »Da ist doch an diesem Wochenende die wunderbare Ausstellung über Maria de Medici eröffnet worden. Ich wollte eigentlich zur Eröffnung nach Florenz fliegen.«
»Seien Sie froh, dass Sie es nicht getan haben. Es gab drei Tote bei der Sprengung der Schmuckvitrine: einen Museumswärter und zwei Besucherinnen. Der Sprengstoff hat zwei Salons sowie unschätzbare Preziosen und wertvolle Gemälde zerstört. Aber es wurde nur ein Schmuckstück geraubt – der Große Sancy!«
Marie-Claire de Vries war sprachlos. Während Francis Roundell sie ausführlich über die dramatischen Geschehnisse informierte und ihr Zeitungsausschnitte mit Bildern von den beiden Tatorten in Florenz und Bayern vorlegte, überschlugen sich ihre Gedanken. Die Brutalität, mit der die Täter vorgegangen waren, schockierte sie. Das Motiv war ihr völlig rätselhaft. Doch im Moment war Marie-Claire mehr damit beschäftigt, dass nur die Verschiebung ihrer Urlaubsreise nach Ägypten ihre Anwesenheit bei der Eröffnung der Ausstellung verhindert hatte. Der Gedanke, dass sie nur durch Zufall nicht auch Opfer dieses Sprengstoffanschlages geworden war, schlug ihr auf den Magen. Dein Karma! Ja, es ist dein Karma gewesen, das dich an diesem Tag weg von Florenz nach Ägypten geführt hat. Sie erinnerte sich der Worte ihrer Freundin, die sich seit langem mit vermeintlich göttlichen Fügungen, mit Schicksalsfragen und astrologischen Themen beschäftigte. »Der Fluss der Dinge, des Lebens ist vorgegeben«, sagte sie stets und meinte, dass es völlig sinnlos, kaum mehr als Ausdruck menschlicher Verzweiflung sei, zu versuchen, auf die wirklich großen, bedeutsamen Geschehnisse des Lebens Einfluss zu nehmen. Francis Roundells Worte rissen sie aus ihrer Nachdenklichkeit. Er klang ungewöhnlich angespannt.
»Die beiden Raubüberfälle, Marie-Claire, sind eine Sache. Weswegen ich zu Ihnen nach Wien gekommen bin, ist jedoch eine ganz andere. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen diesen beiden spektakulären Aktionen und gewissen Geschehnissen bei uns im Auktionshaus gibt.«
Marie-Claire blickte ihn fragend an. »Das verstehe ich nicht, Francis.«
»Vor einigen Monaten tauchten innerhalb von drei Wochen zwei Männer bei uns in der Zentrale auf, die sich beide für eine unserer Auktionen in Genf im Jahre 1981 interessierten. Im Versteigerungskatalog wurde damals auf Position siebenhundertzehn ein Diamant mit hundertsiebenunddreißig Karat aufgeführt. Der außergewöhnlich schöne, gelbliche Stein war uns von dem Verkäufer anonym über ein Anwaltsbüro offeriert worden.«
»Hundertsiebenunddreißig Karat? Ein gelblicher Diamant?«, unterbrach Marie-Claire ihn. »Das hört sich an, als sprächen wir hier über den Florentiner.«
»Richtig, Sie haben es erraten, Marie-Claire!« Francis Roundell machte keinen Hehl aus seiner Anerkennung für die schnelle Auffassungsgabe und die Kompetenz seiner Kollegin.
»Es ging wahrscheinlich tatsächlich um den berühmten Florentiner. Leider wurde das Verkaufsangebot kurz vor der Auktion aus uns nicht bekannten Gründen zurückgezogen. Bilder haben wir nie zu sehen bekommen. Lediglich die Expertise eines renommierten Edelsteinexperten. Wir haben nie wieder etwas von diesem Hundertsiebenunddreißig-Karäter gehört, bis nun plötzlich diese beiden Männer vor einigen Monaten auftauchten und sich für die knapp fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Auktion interessierten. Sie sprachen ganz offiziell bei uns vor und baten darum, dass wir ihr Interesse an diesem Hundertsiebenunddreißig-Karat-Edelstein an den Anwalt des damaligen Anbieters weiterleiten.«
»Ein höchst ungewöhnliches Anliegen, nicht wahr?«
»Mehr als ungewöhnlich! Das ist mir in meinen vielen Jahren bei Christie’s noch nie passiert. Zumal es bekanntlich zu den unantastbaren Geschäftsprinzipien unseres Auktionshauses gehört, keine Informationen über Käufer beziehungsweise Verkäufer an Dritte weiterzugeben. Die beiden Männer haben uns mit ihrem Anliegen so irritiert, dass unsere Sicherheitsabteilung sofort aktiv wurde. Beide Männer wurden beim Verlassen der Christie’s-Zentrale in London heimlich fotografiert. Fingerabdrücke existieren ebenfalls von beiden. Von einem der Männer haben wir ein Autokennzeichen, von dem anderen eine Telefonnummer.«
Читать дальше