Marie-Claire schaute ihre Freundin verwundert an.
»Warum zeigst du mir ausgerechnet dieses Bild? Wenn ich richtig informiert bin, sind die meisten Exponate des Hauses Burgund und der Ritter vom Goldenen Vlies am anderen Ende der Schatzkammer untergebracht – in Raum fünfzehn und sechzehn, richtig?«
»Das ist richtig, meine liebe Marie-Claire. Aber ich dachte mir, der Name Kaiser Karl VI. habe doch eine gewisse Symbolkraft. Immerhin heißt der jetzige Souverän dieses legendären Ordens auch Karl! Sein adliges ›von‹ haben sie ihm ja bekanntlich abgesprochen. Im Nachkriegsösterreich sind Adelstitel ja verpönt. Der Souverän der Ritter vom Goldenen Vlies ist dieser Karl aber dennoch! Was ich recht bizarr finde ist die Tatsache, dass es ohne den Einfaltsreichtum dieses pausbäckigen Mannes hier auf dem Gemälde die letzten dreihundert Jahre überhaupt keine Habsburger Monarchie mehr gegeben hätte! Wer weiß, vielleicht hätte es dann auch keinen Orden vom Goldenen Vlies, keine Sisi, keinen Florentiner und damit kein so großes Leid in der Familie der Habsburger gegeben!«
Marie-Claire riss verwundert die Augen auf. Dass ihre aus Hamburg stammende, über ihre Heirat nach Wien gekommene Freundin gelegentlich zu sehr eigenwilligen Interpretationen historischer Fakten tendierte, zudem gelegentlich sehr radikal-feministische Ambitionen hatte, wusste sie. Sie waren immerhin schon seit fünfzehn Jahren befreundet. Sie wusste auch, dass Christiane eine exzellente Historikerin war. Diese These und der Mystizismus aus Chrissies Mund verblüfften sie jedoch sehr.
»Du musst dich nicht wundern, wenn du als ›Piefke‹ – als Deutsche – mit solchen Thesen hier in Österreich einen Sturm der Entrüstung auslöst!«
»Aber es ist nun mal so, meine Liebe«, triumphierte Christiane Schachert und grinste. »Um es deutlicher auszudrücken: Kaiser Karl VI. war der letzte männliche Habsburger! Wäre er trotz der ihm wohl eigenen aristokratischen Borniertheit nicht so unglaublich clever gewesen, hätte das Haus Habsburg im 18. Jahrhundert das Ende seiner glanzvollen Zeiten erleben müssen. Du weißt ja: Ohne männlichen Erbfolgen lief damals nichts! Mit einem eigenen Erbfolgegesetz, der so genannten Pragmatischen Sanktion, bestimmte er im Jahre 1713 einfach so den Vorrang der Erbfolge seiner Kinder – und zwar auch der Töchter! Das hat ihm jahrelange zähe diplomatische Verhandlungen und viel Zwist eingebracht, aber er hat es durchgesetzt. Auch wenn seine Tochter und Erbin, Maria Theresia, nach seinem Tod um die Gültigkeit dieses Gesetzes kämpfen musste, ohne dieses Erbfolgegesetz wäre das Haus Habsburg mangels männlicher Erben mehr oder minder in die Bedeutungslosigkeit versunken! Ergo hätte es auch, das vermute ich jetzt einmal, keinen direkten männlichen Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies aus dem Hause Habsburg gegeben. Erst durch die Heirat von Maria Theresia mit Franz I. von Lothringen kam faktisch ein neuer männlicher Souverän ins Spiel: ein Habsburg-Lothringischer! Du siehst, dem Mammon Macht opfert die herrschende Klasse schnell mal ein schnödes Gesetz oder schafft ein neues! Das war damals so und ist heute nicht viel anders. So gesehen kann ich dir also nur raten, liebe Marie-Claire: Schau zu, dass du schnell schwanger wirst und Jungs auf die Welt bringst! Mädchen können leicht den Untergang einer Dynastie herbeiführen. Und zum Ritter dieses edlen Ordens werden sie bekanntlich auch nicht geschlagen.«
Wieder musste sie so laut lachen, dass ein Museumswärter sie mit grimmiger Miene zur Ruhe ermahnte. Marie-Claire war von ihrer Freundin restlos begeistert. Chrissie war einfach genial! Sie konnte mit wenigen Worten Dinge unglaublich prägnant auf den Punkt bringen. Wie Giftpfeile schossen Wahrheiten manchmal aus ihrem Mund. Wenngleich sie den historischen Wahrheitsgehalt dieser These ihrer Freundin nicht wirklich beurteilen konnte, so merkte sie doch, dass Christiane sich mit den Verknüpfungen des Vlies-Ordens mit dem Hause Habsburg sehr gut auskannte. Da ihre bisherigen Recherchen schon gezeigt hatten, dass die Historie des Florentiner-Diamanten sehr eng mit der Geschichte der Habsburger verknüpft war, ahnte sie, dass sie das Wissen ihrer Freundin noch oft in Anspruch nehmen würde. Christiane war mittlerweile schon einige Schritte weiter gegangen. Sie wirkte plötzlich sehr nervös.
»Komm, ich habe nicht mehr viel Zeit«, wandte sie sich um. »Ich denke, ich habe noch eine sehr große Überraschung für dich.«
Marie-Claire fühlte sich von der Pracht der Schatzkammer überwältigt, merkte, wie sie fast geduckt und unterwürfig, von grenzenloser Ehrfurcht erfüllt die nächsten Räume durchschritt. Nur kurz verharrten sie in Raum fünf vor einem Gemälde des berühmten französischen Porträtisten des europäischen Hochadels, Jean Baptiste Isabey, das Kaiser Napoleon zeigte.
»Der hat den Florentiner ebenfalls besessen«, sinnierte Marie-Claire laut und ergänzte: »Hat ihm scheinbar auch kein Glück gebracht.«
So eilig ihre Freundin Christiane es auch hatte, so stur war Marie-Claire, als sie Raum acht betraten.
»Warte, du hektische Pressetante«, zischte sie. »Hier kann ich nicht so einfach vorbeirasen. Das hier ist eines der großen Mysterien dieser Schatzkammer. Es ist ein Wunder – für mich jedenfalls!«
Zielstrebig ging sie auf eine in fahlem Licht optisch beeindruckend präsentierte Vitrine zu und blieb davor stehen. Die »Achatschale« zählt zu den beiden als unveräußerlich deklarierten Erbstücken des Hauses Österreich. Das samt Handgriffen sechsundsiebzig Zentimeter breite Kunstwerk war von Meisterhand aus einem mächtigen Achatsteinblock herausgearbeitet worden und gilt als die größte gemmoglyptische Schale der Welt. Ein Prachtwerk, um das sich ebenfalls unzählige Legenden und Mythen ranken. Auch Marie-Claire war immer wieder aufs Neue von der geheimnisvollen Aura der Schale gefangen. Nicht nur die einzigartige Größe des Steins und die meisterhafte Formgebung der Schale hielten sie in Bann. Es waren mehr die vielen Quellen, die von einem Naturwunder, einer rätselhaften Inschrift in der Schale sprachen. Nicht von des Künstlers Hand eingeritzt oder gar aufgemalt, sondern in der Substanz des Steins, in seiner Maserung erscheint unter besonderen Lichtverhältnissen unter anderem das mystische Schriftzeichen KRISTO oder XRISTO! Schon vor Hunderten von Jahren, aber auch in der Neuzeit hatten sich Gelehrte und renommierte Wissenschaftler mit diesem Phänomen beschäftigt. Mal wurde geunkt, die Inschrift sei gar nicht vorhanden. Dann aber war im Jahre 1951 bei Reinigungsarbeiten die Inschrift wieder zu sehen. Dass die Achatschale der Heilige Gral sei, in dem das Blut Christi bei seiner Kreuzigung aufgefangen worden war, wurde ebenso behauptet, wie Mystiker darauf hinwiesen, dass es bei Lukas 19,40 hieß: »Wenn diese schweigen, werden die Steine rufen!«
Marie-Claire erschauerte innerlich. Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Für sie stellte sich bei dieser einzigartigen Achatschale nicht die Frage der wissenschaftlichen Beweisführung für die Existenz der Inschrift. Ihr fraglos sehr gläubiger Professor hatte ihr zum Ende ihres Studiums etwas gesagt, was sie nie vergessen hatte und was seither ihre Grundeinstellung zu Kunst und zu dieser mystischen Achatschale maßgeblich prägte: »Das Erkenntnisvermögen muss sich immer an dem orientieren, was es sehen will! Nur ein Auge, das dazu fähig ist, kann das Wunder sehen. Die Natur ist eine Selbstoffenbarung des Schöpfers. Daher kann nur ein von Gott begnadeter Künstler leblose Materie mit den Mächten der Seele einen.«
»Träumst du?«
Die Worte ihrer Freundin rissen sie aus ihren Gedanken.
»Tut mir Leid«, atmete Marie-Claire aus. Christiane schaute sie verwundert an.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, diese ganze Sache um den Florentiner herum verwirrt dich sehr! Wie auch immer: Ich muss dich bitten, etwas schneller zu gehen. Ich will dir was zeigen, etwas sehr Seltsames. Es wird dich umhauen …«
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