Zum ersten Mal seit dem Eintreffen auf der Polizeiwache wirkte der alte Mann ernsthaft an dem interessiert, was vor sich ging. Er erhob sich ohne das Gestöhne und Gemurmel, das diese Tätigkeit bisher begleitet hatte.
»Die Zahlen!« Er legte die Handflächen aneinander, eine Geste zwischen Gebet und Applaus. »Ja! Das gefällt mir! Der Vogel war es gewohnt, Zahlen zu wiederholen.«
»Den ganzen verfluchten Tag lang.«
»Endlose Zahlenreihen«, sagte Mrs Panicker und überhörte sogar den Kraftausdruck, obgleich einer der Polizisten dabei zusammenzuckte. Nun fiel ihr wieder ein, dass sie tatsächlich viele Male gesehen hatte, wie Parkins ein kleines Notizbuch hervorgezogen und die numerischen Arien niedergeschrieben hatte, die Brunos schwarzer Schnabel mit unheimlich uhrwerkartigem Schnalzen hervorbrachte. »Von eins bis neun, immer wieder, ohne bestimmte Reihenfolge.«
»Und alles auf Deutsch«, sagte Reggie.
»Und dieser Mr Parkins, in welchem Beruf ist er momentan tätig? Ist er Handelsreisender wie Richard Shane?«
»Er ist Architekturhistoriker«, sagte sie und bemerkte dabei, dass weder Noakes noch Woollett sich die Mühe machte, irgendetwas schriftlich festzuhalten. Wenn man die beiden so betrachtete, schwitzende Kolosse in blauen Wollmänteln, konnte man meinen, sie würden nicht einmal zuhören, von Mitdenken ganz zu schweigen. Vielleicht fanden sie es zu heiß zum Denken. Der eifrige kleine Inspector aus London, dieser Bellows, tat ihr Leid. Kein Wunder, dass er den alten Mann um Hilfe gebeten hatte. »Er arbeitet an einer Monographie über unsere Kirche.«
»Aber gesehen wird er dort nie«, sagte Reggie. »Schon gar nicht sonntags.«
Der alte Mann schaute sie an, erwartete eine Bestätigung.
»Momentan erstellt er ein Gutachten über einige sehr alte Dorfurkunden, die in der Bibliothek von Gabriel Park aufbewahrt werden«, sagte sie. »Ich verstehe leider nicht sehr viel davon. Er versucht, die Höhe des Kirchturms im Mittelalter zu berechnen. Es ist alles sehr … er hat es mir einmal gezeigt. Es sieht mehr wie Mathematik als wie Architektur aus.«
Langsam ließ sich der alte Mann wieder auf den Stuhl sinken, jetzt wirkte er völlig gedankenverloren. Nicht länger schaute er Mrs Panicker oder Reggie oder, so weit sie es beurteilen konnte, irgendetwas anderes im Raum an. Seine Pfeife war längst erloschen, er entzündete sie erneut mit einer Reihe mechanischer Handgriffe, scheinbar ohne es überhaupt wahrzunehmen. Die vier Menschen, die das Zimmer mit ihm teilten, standen oder saßen herum und warteten in beachtlicher Einmütigkeit darauf, dass er zu irgendeinem Schluss kam. Nach einer vollen Minute kräftigen Schmauchens sagte er klar und deutlich: »Parkins«, dann hielt er eine kleine gemurmelte Rede, die sie nicht verstand. Er schien sich selbst eine Predigt zu halten. Noch einmal hievte er sich auf die Füße, dann steuerte er auf die Tür des Wartezimmers zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Es war, als hätte er die anderen vollkommen vergessen.
»Was ist mit mir?«, rief Reggie. »Sagen Sie denen, sie sollen mich freilassen, Sie alter Spinner!«
»Reggie!« Mrs Panicker war entsetzt. Bisher hatte er nichts von sich gegeben, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Ausdruck des Bedauerns über das Schicksal von Mr Shane hatte. Ohne sich im Geringsten zu schämen, hatte er sein Vorhaben gestanden, einem verwaisten kleinen Judenflüchtling den Vogel zu stehlen, und Mr Parkins’ Brieftasche durchsucht zu haben. Und nun saß er da und beleidigte den einzig wirklich wertvollen Verbündeten, den er, von ihr selbst abgesehen, je gehabt hatte. »Um Himmels willen. Wenn du nicht einmal jetzt siehst, in welches Schlamassel du dich gebracht hast …«
An der Tür drehte sich der alte Mann mit einem verärgerten kleinen Lächeln um.
»Ihre Mutter hat Recht«, sagte er. »Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nur sehr wenige Beweise, die Sie entlasten, aber sehr viele Indizien, die auf Sie zu verweisen scheinen. Diese beiden Herren hier« – er nickte in Richtung Noakes und Woollett – »würden ein Pflichtversäumnis begehen, wenn sie Sie freiließen. Kurz gesagt, Sie scheinen durchaus schuldig zu sein, Mr Shane umgebracht zu haben.«
Dann setzte er seine Jagdmütze auf und ging, mit einem letzten Nicken in Richtung von Mrs Panicker, nach draußen.
Schon einmal hatte der alte Mann Gabriel Park besucht, es musste irgendwann in den späten neunziger Jahren gewesen sein. Damals wie heute ging es um Mord, und auch damals war ein Tier beteiligt gewesen – eine siamesische Katze, die gewissenhaft dazu ausgebildet worden war, ein seltenes malaysisches Gift zu verabreichen, indem sie mit den Schnurrbarthaaren an den Lippen des Opfers entlangstrich.
In den dazwischen liegenden Jahren war es mit dem großen alten Herrenhaus abwärts gegangen. Vor dem letzten Krieg hatte ein Brand den Nordflügel mit seinem turmbewehrten Observatorium zerstört, aus dessen geschlitztem Augenlid die Baronin di Sforza, eine vornehme, abscheuliche Frau, in den Tod gesprungen war, die wertvolle Siamzuchtkatze heulend an die Brust gedrückt. Vereinzelt sah man noch geschwärzte Holzbalken wie geputzte Dochte aus dem hohen Gras ragen. Das Haupthaus mit dem umliegenden Weideland war kurz vor dem gegenwärtigen Krieg von einer Institution namens »Nationale Molkereiforschung« in Beschlag genommen worden; ihre kleine, erstaunlich gesunde Herde Galloways war in der Nachbarschaft Gegenstand enormer Skepsis und Belustigung.
Vor vierzig Jahren war eine große Dienerschar notwendig gewesen, um das Anwesen in Schuss zu halten, erinnerte sich der alte Mann. Jetzt war niemand mehr da, der den Efeu stutzte, die Fensterrahmen strich oder die fehlenden Ziegel auf dem Dach ersetzte, das sich im Laufe der fünfjährigen Besatzungszeit durch die Molkereiforschung von einer eindrucksvollen Schornsteinparade in einen verworrenen Strickkorb voller Antennen und Drähte verwandelt hatte. Die Milchforscher selbst wurden nur selten in der Stadt gesichtet, aber man hatte beobachtet, dass mehrere von ihnen mit dem Akzent ferner zentraleuropäischer Länder sprachen, wo die Tatsache, dass Galloways als Mastrinder für die Milchproduktion ungeeignet waren, vielleicht nicht hinlänglich bekannt war. Der Südflügel, durch die angeblichen nationalen Milchbedürfnisse vom Haupthaus getrennt, siechte dahin. Ein oder zwei der noch lebenden Curlewes besuchten regelmäßig das obere Stockwerk. Und in der herrlichen alten Bibliothek – eben dem Raum, in dem der alte Mann mit Hilfe einer klug postierten Sardinenbüchse das verbrecherische Tier überführt hatte – brütete Mr Parkins mit einem guten Dutzend weiterer Geschichtswissenschaftler, die zu alt oder untauglich für den Krieg waren, in dem weltberühmten, beispiellosen Archiv, das die Curlewe-Familie in den sieben Jahrhunderten ihrer Herrschaft über diesen Teil von Sussex geführt hatte, über Steuerlisten, Rechnungsbüchern und juristischen Dokumenten.
»Es tut mir Leid, Sir«, sagte der junge Soldat. Er saß hinter einem schmalen Metalltisch in einem schmalen Metallhäuschen an der zum Anwesen hinaufführenden Auffahrt. Es war ein Häuschen von jüngster, billigster Machart. Man konnte kaum übersehen, dass der Soldat eine Webley im Holster trug. »Aber ohne die entsprechenden Empfehlungen darf ich Sie nicht hereinlassen.«
Der Enkel von Sandy Bellows, dem sturen, unermüdlichen Überführer von Schwindlern, zog seinen Dienstausweis hervor.
»Ich untersuche einen Mord«, sagte er und klang dabei weniger selbstsicher, als es seinem Ahnen und auch dem alten Mann lieb gewesen wäre.
»Das glaube ich gerne«, sagte der Soldat. Einen Moment lang wirkte er ehrlich betrübt über Shanes Tod, lange genug, um den alten Mann misstrauisch zu machen. Dann nahm das Gesicht des Soldaten wieder ein selbstgefälliges Grinsen an. »Aber ein Polizeiausweis reicht nicht für eine Genehmigung. Nationale Sicherheit.«
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