»Da hatte jemand Albträume«, sagte der alte Mann.
»Wenig verwunderlich.«
»Ein Mensch, der mit Chiffren und Codes zu tun hat.«
»Zumindest mit etwas höchst Geheimem.« Liebevoll betrachtete der Colonel die verbliebenen zweieinhalb Zentimeter Whisky in seinem Glas, dann sagte er ihnen Lebewohl. »Hielt so lange wie möglich an seinem privaten Judendoktor fest. Und sich damit die schlimmen Träume vom Leib. War mit ihm in einer Art Geheimeinrichtung oder Lager kaserniert. Mit der ganzen Familie. Frau, Kind, Papagei.«
»Wo der Papagei so unauffällig und geschickt, wie man es von seiner Art kennt, begann, die Zahlencodes der Kriegsmarine auswendig zu lernen.«
Der Mann aus London wusste Sarkasmus möglicherweise weniger zu würdigen als schottischen Whisky.
»Man hat sie ihm natürlich beigebracht«, sagte er. »So lautet jedenfalls die Theorie. Dieser Parkins sitzt scheinbar schon seit Monaten dran. Sobald wir davon erfuhren …«
»… versuchten Sie, Reggie Panicker zu bewegen, das Tier zu stehlen und an Mr Black zu verkaufen, der, so nehme ich an, in Ihren Diensten steht.«
»Meines Wissens nicht«, sagte der Mann aus London, und sein Ton enthielt die höfliche Andeutung, dass sein begrenztes Wissen für die Zwecke des alten Mannes durchaus genügte. »Und in Bezug auf den jungen Panicker irren Sie. Damit hatten – wir nichts zu tun.«
»Und Ihnen ist egal, wer Ihren Mr Shane umgebracht hat?«
»Oh nein, ist es uns nicht. Wirklich nicht. Shane war ein feiner Mann. Ein erfahrener Mitarbeiter. Sein Tod ist äußerst beunruhigend, nicht zuletzt aufgrund der Folgerung, dass jemand hergeschickt wurde, um den Vogel zurückzuholen.« Er schien keine Erklärung für notwendig zu halten, wer diesen Jemand geschickt haben mochte. »Vielleicht hält er sich in der Umgebung versteckt. Er könnte ein Schläfer sein, ein Agent, der schon lange unauffällig im Dorf lebt und arbeitet, schon vor dem Krieg. Genauso gut kann er bereits mitten auf der Nordsee auf dem Heimweg sein.«
»Er könnte auch in seinem Arbeitszimmer im Pfarrhaus sitzen und hart an der Predigt für den kommenden Sonntag arbeiten. Eine Predigt, die sich auf das zweite Kapitel Hosea bezieht, Vers eins bis drei.«
»Möglich«, sagte der Mann aus London mit einem trockenen Husten, das als echtes Lachen auszugeben er sich sichtlich bemühte. »Ihr junger Freund, der Inspector, hat sich jetzt an den Vater gehängt.«
»Ja, das liegt nahe.«
»Aber es ist unwahrscheinlich. Der Bursche züchtet Rosen, stimmt’s?«
»Ein verbitterter, enttäuschter, eifersüchtiger Mann tötet jemanden, den er für den Liebhaber seiner Frau hält – das finden Sie unwahrscheinlich. Ein mordender Nazispion, der den Auftrag hat, einen Papagei zu entfuhren, das erscheint Ihnen hingegen …«
»Nun, gut.« Der Colonel spähte in das leere Whiskyglas, und seine Wangen röteten sich, als sei er gekränkt worden. »Es ist nur, wenn wir die Gelegenheit hätten, würden wir es genauso machen, nicht wahr?« Im Körper des Colonels schienen die Streben ein wenig nachgegeben zu haben, doch der alte Mann bezweifelte, dass ein verstaubtes Glas Scotch schuld daran war. Er kannte die Elite des britischen Nachrichtendienstes von den Tagen des »Großen Spiels« bis zum Knall der ersten Schüsse von Mons. Letzten Endes lief ihr Handwerk auf schlichtes Spiegeln hinaus: Umkehrschlüsse, Reflexionen, Echos. Und was man durch einen Spiegel sah, hatte immer etwas Entmutigendes. »Wenn die einen Papagei hätten, der bis zu den Flügelspitzen mit unserem Marinecode voll gestopft wäre, würden wir mit Sicherheit nichts unversucht lassen, ihn zurückzubekommen.« Mit einem Lächeln, das ihn selbst und das Ministerium, in dem er arbeitete, verhöhnte, schaute der Colonel zu dem alten Mann auf. »Oder dafür sorgen, dass er am Spieß gebraten wird.«
Als er sich von dem äußerst harten Stuhl erhob, krachten die Knochen in seinem Soldatenkörper. Dann schritt er mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf die Scotchflasche zur Tür.
»Wir strengen uns mächtig an, diesen Krieg nicht zu verlieren«, sagte er. »Ein intelligenter Papagei wäre bei weitem nicht das Absurdeste, von dem sein Ausgang abhängen könnte.«
»Ich habe versprochen, Bruno zu finden«, sagte der alte Mann. »Und das werde ich auch.«
»Falls Sie es schaffen«, sagte der Colonel. Als er die Tür öffnete, tastete sich ein langer Streifen Sommernachmittag ins Haus. Der alte Mann hörte den Singsang der Bienen in ihrer Stadt. Das Licht selbst hatte die Farbe von Honig. Der Fahrer auf dem Hof erwachte aus seinem Nickerchen, und der Motor der Limousine erwachte brummend zum Leben. »Die Nation ist Ihnen zu Dank verpflichtet und so weiter.«
»Ich werde ihn dem Jungen zurückbringen.«
Es kam trotziger heraus, als es dem alten Mann Recht war, quäkend und brüchig, und er bereute, es gesagt zu haben. Sein Gast konnte den Satz nicht einmal als hohle Phrase eines alten Kauzes missverstehen.
Der Mann aus London runzelte die Stirn und stieß einen Seufzer aus, der verbittert oder bewundernd gemeint sein konnte. Dann schüttelte er einmal derart heftig den Kopf, dass es normalerweise jedes vernichtende Urteil einschloss, das er im Verlauf des Tages noch würde fällen müssen, fand der alte Mann. Der Gast zog einen Fetzen Papier und einen abgenagten blauen Bleistiftstummel hervor. Er kritzelte eine Nummer auf die Rückseite des Zettelchens und stopfte es dann vorsichtig in den Spalt des verzogenen hölzernen Türrahmens. Bevor er ging, drehte er sich noch einmal um und schaute den alten Mann mit einem sonderbar verträumten Gesichtsausdruck an.
»Wie Papageienfleisch wohl schmeckt, frage ich mich«, sagte er.
Die Bienenstöcke bestanden aus mehreren giebelförmigen Kisten auf der Südseite des Cottages, weiße Miniaturpagoden, gestuft wie eine Hochzeitstorte. Eine der Kolonien stammte aus dem Jahr 1926; in Gedanken nannte er sie immer das »Altvolk«. Das Altvolk war von Generationen starker, fruchtbarer Königinnen hervorgebracht und regiert worden. Es erschien dem alten Mann so altehrwürdig wie Großbritannien selbst, wie die kreidigen Knochen der South Downs. Und jetzt war wie in jedem der siebzehn letzten Sommer die Zeit gekommen, es seines Honigs zu berauben.
An dem Morgen, der für das Schleudern vorgesehen war, las er bis vier Uhr J. G. Digges, dann schlief er eine unruhige Stunde lang, bis er wusste, dass es Zeit zum Aufstehen war. Noch nie hatte er sich auf einen Wecker verlassen. Sein Leben lang hatte er einen leichten Schlaf gehabt, im Greisenalter litt er regelrecht an Schlaflosigkeit. Wenn er einmal schlief, träumte er von Rätseln und mathematischen Problemen, was seine Erholung verminderte. Wach zu sein war ihm weitaus lieber.
Alles brauchte länger, als es hätte dauern sollen – waschen, Kaffee brühen, die erste Pfeife des Tages stopfen. Er hatte nie richtig kochen gelernt, und die jüngste Tochter der Satterlees, die ihn versorgte, würde nicht vor sieben Uhr kommen. Dann wäre er längst schwer mit den Bienenstöcken beschäftigt. Also aß er nichts. Doch obwohl er sich die Mühe des Frühstückens sparte, ärgerte er sich festzustellen, dass die Sonne bereits hoch vom Himmel brannte, als er die tägliche Schlacht im Badezimmer geschlagen, seine hageren alten Glieder gewaschen, alle Reißverschlüsse seines Imkeroveralls geschlossen, die Stiefel mit den Gummisohlen übergestreift und seinen Imkerhut aufgesetzt hatte. Es würde ein heißer Tag werden, und bei Hitze waren Bienen unzufrieden. Im Moment lag noch eine nächtliche Kühle und ein schwerer Geruch vom Meer in der Luft, an den Hügelkuppen hing der Dunst. Daher verschwendete der alte Mann weitere fünf Minuten und genoss seine Pfeife. Die morgendliche Frische, der glimmende Tabak, das Dösen der spätsommerlichen, honigsatten Bienen: Bis zum jüngsten Abenteuer mit dem klugen Papagei waren dies die Freuden seines Lebens gewesen. Es waren einfache Freuden, erkannte er nun.
Читать дальше