Die beiden Polizisten, Kommunikanten von Mr Panicker, hießen, wie ihr schließlich einfiel, Noakes und Woollett; sie schauten den alten Mann mit zusammengekniffenen Augen an, als klebe ein Rest vom Frühstück an seiner Lippe.
»Ist gefallen«, sagte der eine, den Mrs Panicker für Noakes hielt.
Woollett nickte. »War Pech«, sagte er.
»Allerdings«, sagte der alte Mann. Jede Regung wich aus seinem Gesicht, als er die nächste lange, gründliche Musterung vornahm. Sein Objekt war diesmal das empörte Gesicht ihres Sohnes, der den alten Mann mit hasserfülltem Blick anstarrte, was Mrs Panicker nicht sonderlich schockierte; ganz im Gegenteil war sie überrascht zu sehen, dass Reggies Blick schließlich nachgab und sich auf seine mageren, braunen, auf dem Schoß gekreuzten Handgelenke senkte, was ihn viel jünger wirken ließ als zweiundzwanzig Jahre.
»Was will sie denn hier?«, sagte er schließlich.
»Ihre Mutter hat Ihnen ein paar persönliche Dinge mitgebracht«, sagte der alte Mann. »Ich bin sicher, dass Sie sie gebrauchen können. Aber wenn Sie wollen, werde ich Ihre Mutter bitten, draußen zu warten.«
Reggie hob den Blick, schaute zu ihr hinüber, und in seinem Schmollmund lag etwas Dankähnliches, eine boshafte Dankbarkeit, als sei sie vielleicht doch keine gar so schreckliche Mutter, wie er immer gedacht hatte. Obwohl sie ihrer eigenen Buchführung nach – und da war sie gewiss nicht großzügig zu sich selbst – ihren Sohn nie im Stich gelassen hatte, schien er jedes Mal, wenn sie zu ihm hielt, sonderbar skeptisch und erstaunt Zu sein.
»Ist mir scheißegal, was sie macht«, sagte er.
»Ja«, sagte der alte Mann trocken. »Ja, das nehme ich an. Also gut. Aha. Hm. Nun, erzählen Sie mir doch bitte von Ihrem Freund Mr Black aus London.«
»Da gibt’s nichts zu erzählen«, sagte Reggie. »Ich kenne den Kerl nicht.«
»Mr Panicker«, sagte der alte Mann. »Ich bin neunundachtzig Jahre alt. Das kurze Leben, das mir noch vergönnt ist, würde ich sehr viel lieber in Gesellschaft von Personen verbringen, die weitaus intelligenter und geheimnisvoller sind als Sie. Erlauben Sie also bitte im Interesse der spärlichen mir noch verbleibenden Zeit, dass ich Ihnen über Mr Black von der Club Row in London berichte. Ich nehme an, dass ihm kürzlich etwas über einen erstaunlichen Papagei zu Ohren gekommen ist, ein ausgewachsenes Tier von guter Gesundheit, das ein beachtliches Imitationstalent und ein Gedächtnis besitzt, welches bei dieser Art weit über der Norm liegt. Wäre dieser Vogel nun im Besitz von Mr Black, könnte er ihn für eine hübsche Summe an einen Liebhaber hier in Großbritannien oder auf dem Kontinent verkaufen. Daher hatten Sie den Entschluss gefasst, den Vogel zu stehlen, und alles entsprechend vorbereitet, um ihn in der Hoffnung auf Einnahme eines größeren Geldbetrags an Mr Black zu veräußern. Wenn ich mich nicht irre, benötigen Sie dieses Bargeld, um die bei Fatty Hodges aufgelaufenen Schulden zu begleichen.«
Die Worte waren ausgesprochen und zu Boden gefallen, noch ehe Mrs Panickers Gedanken sie auffangen oder den unvermittelten Schock aufhalten konnten, der sie dabei durchfuhr. Nach allgemeiner Übereinkunft und öffentlicher Akklamation war Fatty Hodges der schlimmste Mensch in den South Downs. Nicht auszudenken, in welch Unheil er Reggie geritten haben mochte.
Noakes und Woollett starrten vor sich hin; Reggie starrte vor sich hin, alle starrten vor sich hin. Woher konnte der Alte das nur wissen?
»Meine Bienen fliegen überall«, sagte der alte Mann. Er reckte den Hals und rieb sich mit einem trockenen Schaben die Hände – ein Kartenzauberer, der gerade das Ass aus dem Ärmel gezogen hatte. »Und sie sehen alles.«
Die Schlussfolgerung, dass seine Bienen ihm auch alles erzählten, blieb unausgesprochen. Mrs Panicker nahm an, dass er befürchtete, es klinge verrückt; viele glaubten längst, er habe eine Schraube locker.
»Doch ehe Sie das geliebte Tier, den einzigen Freund eines einsamen, verwaisten Flüchtlingskindes, stehlen konnten, kam Ihnen leider der Untermieter Mr Shane zuvor. Als dieser sich mit dem Vogel aus dem Staub machen wollte, wurde er überfallen und getötet. Nun gelangen wir an den Punkt, oder besser gesagt, an einen Punkt, wo die Polizei und ich unterschiedlicher Auffassung sind. Denn selbstredend sind wir ebenfalls unterschiedlicher Ansicht, was die Ratsamkeit betrifft, Häftlinge der Krone zu schlagen, insbesondere solche, die noch nicht verurteilt sind.«
Oh, dachte sie, was für ein feiner alter Mann! Über seinem Verhalten, seinen Worten, dem Tweedanzug und dem schäbigen Cape schwebte wie der Geruch türkischen Tabaks die Macht und Rechtschaffenheit des ehemaligen britischen Empires.
»Nun, Sir …«, unterbrach ihn Noakes vorwurfsvoll – oder war es Woollett?
»Ich würde sagen, dass die Polizei«, fuhr der alte Mann unschuldig und heiter fort, »weitgehend davon überzeugt zu sein scheint, dass Sie es waren, der Mr Shane bei Brunos Abtransport überraschte und ermordete. Ich hingegen glaube, dass es jemand anders war, ein Mann …«
Jetzt wanderten die gierigen Augen des Alten zu Reggies schwarzen Straßenschuhen, die Mrs Panicker am Morgen, als der Tag noch nichts Ungewöhnliches verhieß, auf Hochglanz poliert hatte.
»… ein Mann mit Füßen, die ein ganzes Stück kleiner sind als die Ihren.«
Reggies Miene verrutschte – die Züge dieses enttäuschten Gesichts, kniescheibenglatt. Reglos bis auf die Augenbraue, die nach oben, und den Mundwinkel, der nach unten gezogen wurde. Jetzt fiel es kurz hinunter, und Reggie grinste, wie ein Junge. Er holte seine gewaltigen Riesenfüße unter dem Tisch hervor, streckte sie vor sich aus und bestaunte wie zum ersten Mal ihre eindrucksvolle Größe.
»Das habe ich den beiden doch die ganze Zeit gesagt!«, rief er. »Sicher, klar, noch ein Tag und ich hätte den Vogel verkauft, Fatty bezahlt, und die Sache wäre geritzt gewesen. Aber ursprünglich war die Idee nicht von mir. Parkins hätten sie sich vorknöpfen sollen. Es war seine Brieftasche, in der ich Blacks Karte gefunden habe.«
»Parkins?« Der alte Mann sah die Polizisten an, die mit den Achseln zuckten, dann Mrs Panicker.
»Mein ältester Mieter«, sagte sie. »Im März waren es zwei Jahre.« Ihr wurde klar, dass sie Mr Simon Parkins nie wirklich getraut hatte, obwohl er dem Anschein nach nichts Anstößiges oder Zwielichtiges besaß. Jeden Morgen stand er zur selben Stunde auf, begab sich in die Bibliothek von Gabriel Park, um Schriftrollen oder Frottagen, oder über was auch immer er bis weit nach Anbruch der Nacht brütete, zu studieren, dann kehrte er zu seinem Zimmer, seiner Lampe und seinem aufgewärmten Abendessen zurück.
»Haben Sie demnach die Angewohnheit, den Inhalt von Mr Parkins’ Brieftasche zu untersuchen, Reggie?«, fragte Noakes oder Woollett kumpelhaft, aber ein wenig zu verbissen, als fürchte er, ihm entschwinde die Grundlage, Reggie einen Mord anzuhängen, und hoffe stattdessen, ihm etwas anderes anzuhängen, ehe es zu spät war.
Mit hörbarem Knacken drehte der alte Mann seinen Kopf den beiden Polizisten zu.
»Ich möchte auch die beiden Herren bitten zu beachten, dass meine Tage gezählt sind«, sagte er. »Stellen Sie bitte keine überflüssigen Fragen. Interessiert Parkins sich für den Vogel?«
Die Frage war an Mrs Panicker gerichtet.
»Alle interessierten sich für Bruno«, sagte sie und fragte sich, warum sie über den Papagei in der Vergangenheitsform sprach. »Alle, außer dem armen Mr Shane. Ist das nicht sonderbar?«
»Sicher interessiert sich Parkins für ihn«, sagte Reggie. Die Widerspenstigkeit, mit der er den alten Mann anfangs behandelt hatte, war verflogen. »Er hat ständig was in sein kleines Notizbuch gekritzelt. Jedes Mal, wenn der Vogel mit diesen verdammten Zahlen anfing.«
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