»Ich wünschte, du könntest dich entschließen, deinen Beruf aufzugeben und Hausfrau zu werden, Ann«, sagte Dennis.
»Du bist zu lieb, Dennis«, erwiderte Ann leichthin.
»Wir würden uns gut verstehen«, drängte er.
»Ja, ich weiß. Aber ich möchte noch ein wenig warten. Außerdem muss ich an meine Mutter denken…«
»Du bist zu gut, Ann. Wie oft hast du schon, ohne zu zögern, einen guten Posten aufgegeben, wenn deine Mutter Hilfe brauchte! Aber es gibt heutzutage Heime, in denen solche – solche Leute gut aufgehoben sind – ich spreche nicht etwa von Irrenanstalten, sondern…«
»Ich weiß Bescheid«, unterbrach ihn Ann. »Privatkliniken, die ein Vermögen kosten.«
»Nicht unbedingt. Es gibt Heime für Kassenpatienten…«
»Vielleicht wird es sich am Ende nicht vermeiden lassen«, erwiderte Ann bitter. »Aber vorläufig geht es noch so. Ich habe eine nette ältere Haushälterin gefunden, die bei Mutter lebt und im Allgemeinen sehr gut mit ihr fertigwird. Nur im Notfall muss ich natürlich zur Stelle sein.«
»Willst du damit sagen, dass sie… dass sie gelegentlich…«
»… Tobsuchtsanfälle bekommt? Du hast eine zu lebhafte Fantasie, Dennis. Nein, Mutter ist ganz ungefährlich, nur manchmal etwas verwirrt. Sie vergisst, wo sie ist und wer sie ist. Sie macht plötzlich lange Spaziergänge oder steigt in einen Zug oder in einen Autobus, und… und das ist eben alles ziemlich kompliziert. Aber trotz allem ist Mutter ganz glücklich und zufrieden. Sie hat sogar einen gewissen Sinn für Situationskomik, wenn sie plötzlich an einem wildfremden Ort ankommt und keine Ahnung hat, wo sie ist und warum sie da ist.«
»Ich habe bisher leider keine Gelegenheit gehabt, sie kennen zu lernen«, bemerkte Dennis.
»Darauf lege ich auch keinen Wert«, erwiderte Ann. »Ich will meine Mutter wenigstens vor dem Mitleid und der Neugierde ihrer Mitmenschen bewahren.«
»Es ist nicht Neugierde, Ann.«
»Ich weiß – nur Mitleid«, entgegnete Ann seufzend. »Aber im Übrigen irrst du dich, wenn du glaubst, dass ich mir etwas daraus mache, gelegentlich meine Stellung aufzugeben, um nachhause zu eilen. Ich möchte mich nicht zu sehr an einen bestimmten Chef oder an eine bestimmte Umgebung gewöhnen. Ich weiß, dass ich eine erstklassige Sekretärin bin und jederzeit einen guten Job finden kann. Es macht mir Spaß, neue Menschen kennen zu lernen, und jetzt finde ich es hochinteressant, das Leben in einem der berühmtesten englischen Internate zu studieren. Ich will etwa anderthalb Jahre dort bleiben.«
»Du wehrst dich dagegen, irgendwo Wurzeln zu schlagen, nicht wahr, Ann?«
»Sieht so aus«, erwiderte Ann nachdenklich. »Ich muss wohl ein geborener Beobachter sein.«
»Du bist so unabhängig«, sagte Dennis bedrückt. »Du scheust vor jeder festeren Bindung zurück.«
»Das wird sich eines Tages ändern«, versicherte Ann.
»Hoffen wir’s. Jedenfalls glaube ich nicht, dass du es auch nur ein Jahr dort aushalten wirst. Die vielen Weiber werden dir auf die Nerven fallen.«
»Der Gärtner ist ein gut aussehender junger Mann«, sagte Ann. Sie lachte, als sie Dennis’ Gesicht sah. »Schau nicht so unglücklich drein, ich versuche doch nur, dich eifersüchtig zu machen!«
»Wie erklärst du dir den Mord an der Turnlehrerin?«
»Das Ganze ist mir ein Rätsel, Dennis«, antwortete Ann ernst. »Sie war schlicht, sportlich und ungeschminkt – die brave einfache Turnlehrerin, wie sie im Buche steht. Die Sache muss geheimnisvolle Hintergründe haben, die bisher noch nicht an den Tag gekommen sind.«
»Pass nur auf, dass du nicht in die Sache verwickelt wirst, Ann«, warnte Dennis besorgt.
»Das ist leichter gesagt als getan. Bisher hat sich mir noch keine Möglichkeit geboten, mein Talent als Privatdetektiv zu zeigen – vielleicht wäre ich gar nicht so unbegabt…«
»Vorsicht, Ann!«
»Ich habe nicht die Absicht, gefährlichen Verbrechern nachzuspüren. Ich habe nur einige logische Schlussfolgerungen gezogen. Warum und wer und weshalb? Ich habe bereits eine interessante Entdeckung gemacht, die allerdings nicht in das Gesamtbild zu passen scheint«, bemerkte Ann nachdenklich. »Vielleicht wird noch ein Mord geschehen, und danach wird man möglicherweise klarer sehen…«
Genau in diesem Augenblick stieß Miss Chadwick die Tür der Turnhalle auf.
Kommissar Kelsey betrat das Zimmer mit grimmigem Gesicht.
»Kommen Sie mit, es ist ein zweiter Mord geschehen.«
»In Meadowbank?«, fragte Adam entsetzt.
»Ja.«
Adam folgte ihm aus dem Zimmer, in dem sie gemütlich zusammengesessen und ein Glas Bier getrunken hatten, als Kelsey ans Telefon gerufen worden war.
»Wer ist es?«, fragte Adam auf der Treppe.
»Wieder eine Lehrerin – Miss Vansittart.«
»Wo?«
»In der Turnhalle.«
»Schon wieder? Was suchen die nur alle in dieser Turnhalle?«, überlegte Adam.
»Diesmal möchte ich Sie bitten, die Turnhalle zu durchsuchen. Vielleicht sind Ihre Methoden erfolgreicher als unsere«, sagte der Kommissar.
»Der Doktor wird wahrscheinlich schon dort sein«, sagte Kelsey.
Es ist wie ein böser Traum, dachte Kelsey, als er die hellerleuchtete Turnhalle betrat. Wieder lag eine Leiche auf dem Fußboden, wieder kniete der Polizeiarzt daneben, wieder stand er schließlich auf und sagte: »Sie muss vor einer halben Stunde, höchstens vor vierzig Minuten ermordet worden sein.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Miss Chadwick«, erwiderte einer der Beamten.
»Das ist doch die alte Lehrerin, nicht wahr?«
»Ja. Sie sah ein Licht, kam her, fand die Leiche und rannte ins Haus zurück. Dort bekam sie einen hysterischen Anfall. Miss Johnson, die Hausmutter, hat uns angerufen.«
»Wie ist sie getötet worden?«, fragte Kelsey. »Wieder erschossen?«
Der Doktor schüttelte den Kopf.
»Nein. Durch einen Schlag auf den Hinterkopf. Wahrscheinlich mit einem Gummiknüppel oder mit einem Sandsack.«
In der Nähe der Tür lag ein Golfschläger – das einzige Sportgerät, das nicht fein säuberlich am richtigen Ort verstaut worden war.
»Oder vielleicht mit diesem Golfschläger?«, fragte Kelsey.
»Unmöglich. Sie hat überhaupt keine Wunde«, erwiderte der Arzt. »Es muss ein Gummiknüppel oder etwas Ähnliches gewesen sein.«
»Profis?«
»Wahrscheinlich, ja. Jedenfalls wollte der Täter keinen Lärm machen. Er hat sich ihr von hinten genähert und ihr dann einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt. Sie ist vornübergefallen und muss sofort tot gewesen sein.«
»Was tat sie, als der Mörder sich ihr näherte?«
»Ich nehme an, dass sie vor diesem Schließfach gekniet hat«, erklärte der Arzt.
Der Kommissar betrachtete das Namensschild auf dem Schließfach. »Shanda – das ist doch die orientalische Prinzessin!«, er wandte sich zu Adam. »Einen Augenblick – wurde die nicht heute Abend als vermisst gemeldet?«
Adam nickte.
»Stimmt, Kommissar«, bestätigte der Sergeant.
»Noch keine Nachrichten über ihren Verbleib?«
»Keine, Kommissar. Sämtliche Polizeistationen sowie Scotland Yard sind benachrichtigt worden.«
»Eine sehr einfache Art von Entführung«, bemerkte Adam. »Kein Kampf, keine Schreie. Man braucht nur zu wissen, dass das Mädchen darauf wartet, von einem Auto abgeholt zu werden. Dann schickt man schnell einen anderen Wagen, samt respektablem Chauffeur; natürlich wird die junge Dame nichtsahnend in den Wagen steigen, der zuerst da ist.«
»Hat man irgendwo einen verlassenen Wagen gefunden?«
»Nein, Kommissar.«
»Sieht fast wie eine politische Verwicklung aus«, meinte Kelsey. »Ich halte es allerdings für ausgeschlossen, dass sie die Prinzessin außer Landes bringen können.«
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