»Shanda denkt nur an Klamotten«, meinte Julia verächtlich, während die beiden Freundinnen weitergingen. »Glaubst du, dass wir auch mal so werden?«
»Ich fürchte, ja«, erwiderte Jennifer düster.
Sie betraten die Turnhalle, die mittlerweile von der Polizei freigegeben worden war. Jennifer befestigte ihren Tennisschläger sorgfältig im Spanner.
»Ist er nicht prachtvoll?«, fragte sie glücklich.
»Was hast du eigentlich mit deinem alten gemacht?«
»Den hat die Dame mitgenommen, weil Tante Gina sie darum gebeten hatte. Er soll neu bespannt werden.«
»Ach so…«
Julia runzelte nachdenklich die Stirn.
»Was wollte Bully denn von dir?«, erkundigte sich Jennifer.
»Nur Mummys Adresse, aber die konnte ich ihr nicht geben, weil sie gerade mit einem Autobus durch die Türkei gondelt… Mir fällt gerade etwas ein, Jennifer. Dein Schläger musste doch gar nicht neu bespannt werden.«
»Doch, Julia. Er war so weich wie ein Schwamm.«
»Das weiß ich, aber eigentlich ist es mein Schläger. Wir haben doch getauscht, erinnerst du dich? Dein Schläger, den ich jetzt habe, war ja während der Ferien frisch bespannt worden. Das hast du mir neulich selbst gesagt.«
»Ja, das stimmt.« Jennifer sah etwas erstaunt drein. »Wahrscheinlich hat diese Frau – ich hätte mich nach ihrem Namen erkundigen sollen – es bemerkt. Das ist des Rätsels Lösung.«
»Aber du hast doch gesagt, dass deine Tante Gina sie darum gebeten hat, und warum ist die auf den Gedanken gekommen, einen neu bespannten Schläger nochmal reparieren zu lassen?«
»Ach, was weiß ich«, sagte Jennifer ungeduldig. »Außerdem ist es doch völlig egal.«
»Vielleicht ist es egal«, erwiderte Julia nachdenklich. »Aber merkwürdig ist es doch, Jennifer. Neue Lampen für alte – Aladin im Wunderland.«
Jennifer kicherte.
»Ist das nicht eine komische Idee? Ich streiche über meinen alten Tennisschläger – nein, über deinen –, und ein guter Geist erscheint! Was würdest du dir wünschen, wenn ein guter Geist aus der Erde steigen würde, Julia?«
»Ich? Ich habe tausend Wünsche: Ein Tonbandgerät, einen Schäferhund – nein, lieber eine dänische Dogge; dann ein schwarzes Seidensatin-Abendkleid und… und hunderttausend Pfund… und du, was möchtest du gern haben?«
»Ich? Gar nichts. Ich bin restlos glücklich mit diesem wunderbaren Tennisschläger«, sagte Jennifer.
Drei Wochen nach Schuljahrsbeginn durften die Schülerinnen ihre Eltern am Wochenende besuchen. Daher war es am Sonntag in Meadowbank sehr ruhig, und zum Mittagessen erschienen nur zwanzig Mädchen. Auch einige Lehrerinnen waren fortgefahren, die erst Sonntagabend oder Montag früh zurückkommen würden.
Miss Bulstrode, die im Allgemeinen während der Unterrichtszeit die Schule nicht verließ, hatte ausnahmsweise die Einladung der Herzogin von Welsham angenommen, das Wochenende auf Schloss Welsington zu verbringen. Sie hatte aus einem ganz bestimmten Grund zugesagt. Mr Henry Banks, der Vorsitzende des Aufsichtsrats von Meadowbank, wurde ebenfalls auf Schloss Welsington erwartet. Die Schule war seinerzeit mit der finanziellen Unterstützung von Mr Banks gegründet worden, und die Einladung der Herzogin klang fast wie ein Befehl, bei Hofe zu erscheinen. Selbstverständlich ließ sich Miss Bulstrode nur dann Befehle erteilen, wenn sie ihr in den Kram passten. Sie unterschätzte den Einfluss der Herzogin nicht, außerdem legte sie Wert darauf, mit ihr und mit Mr Banks sowohl die tragischen Ereignisse in Meadowbank als auch ihre persönlichen Probleme zu besprechen.
Dank Miss Bulstrodes guten Beziehungen war der Mord in der Presse taktvoll behandelt worden – mehr wie ein Unglücksfall als wie ein Verbrechen. Es wurde angedeutet – aber nicht wirklich klar ausgesprochen –, dass Jugendliche in der Turnhalle von Miss Springer überrascht worden waren. In der darauf folgenden Panik sei sie erschossen worden. Die Polizei sei den Burschen bereits auf der Spur, schrieben die Zeitungen.
Es war Miss Bulstrode bekannt, dass die Herzogin und Henry Banks sie von ihrem Entschluss, sich bald zur Ruhe zu setzen, abbringen wollten. Sie hielt den Augenblick für gekommen, mit ihnen über Miss Vansittart zu sprechen und ihnen klarzumachen, dass Eleanor eine in jeder Beziehung würdige Nachfolgerin abgeben würde.
Am Sonnabendmorgen, nachdem Miss Bulstrode den letzten Brief diktiert hatte, klingelte das Telefon. Ann Shapland nahm das Gespräch an.
»Der Emir Ibrahim ist im ›Claridge‹ angekommen, Miss Bulstrode«, sagte sie. »Er möchte morgen mit Shanda ausgehen.«
Miss Bulstrode nahm ihr den Hörer aus der Hand, um selbst mit dem Adjutanten des Emirs zu sprechen. Sie sagte, Shanda werde ab halb zwölf am Sonntag bereit sein; abends um acht müsste sie nach Meadowbank zurückkehren.
Dann legte sie den Hörer auf und erklärte: »Ich wünschte, diese orientalischen Potentaten würden einem nicht immer im letzten Augenblick Bescheid sagen. Shanda sollte morgen mit Gisèle d’Aubray ausgehen. Das müssen wir nun wieder umändern. Sind noch irgendwelche Briefe zu schreiben?«
»Nein, Miss Bulstrode.«
»Dann kann ich also mit gutem Gewissen fortfahren. Wenn Sie die Briefe getippt haben, können Sie sich das Wochenende ebenfalls freinehmen. Ich brauche Sie nicht vor Montagmittag.«
»Vielen Dank, Miss Bulstrode.«
»Viel Vergnügen, Miss Shapland.«
»Das bestimmt«, sagte Ann.
»Ein junger Mann?«
»Ja, allerdings.« Ann errötete. »Aber nichts Ernstes.«
»Sehr bedauerlich. Wenn Sie die Absicht haben zu heiraten, verschieben Sie es nicht zu lange.«
»Ich treffe nur einen alten Freund. Nichts Aufregendes.«
»Die große Leidenschaft ist oft nicht die beste Basis für eine gute Ehe«, warnte Miss Bulstrode. »Bitte schicken Sie mir jetzt Miss Chadwick.«
Miss Chadwick kam geschäftig herein.
»Der Emir Ibrahim will morgen mit Shanda ausgehen, Chaddy. Falls er sie selbst abholen sollte, sag ihm bitte, dass sie gute Fortschritte macht.«
»Sehr aufgeweckt ist sie nicht«, erwiderte Miss Chadwick zögernd.
»Ja, geistig ist sie noch ziemlich unreif«, gab Miss Bulstrode zu. »Aber in gewisser Beziehung ist sie weit über ihre Jahre hinaus entwickelt. Man hat manchmal das Gefühl, mit einer Zwanzigjährigen zu reden – wahrscheinlich, weil sie schon soviel herumgekommen ist. Sie hat in Paris, Teheran, Istanbul und wer weiß wo noch gelebt. Wir in England legen Wert darauf, junge Menschen so lange wie möglich als Kinder zu betrachten. Aber wahrscheinlich ist das ein Fehler.«
»Ich bin da nicht ganz deiner Meinung«, erwiderte Miss Chadwick kopfschüttelnd. »So, jetzt werde ich Shanda über die Pläne ihres Onkels informieren. Ich wünsche dir ein angenehmes Wochenende. Vergiss mal alles, und mach dir keine Sorgen um die Schule.«
»Bestimmt nicht«, erwiderte Miss Bulstrode. »Ich betrachte es als eine gute Gelegenheit, Eleanor Vansittart die Verantwortung zu übertragen und zu sehen, ob sie der Aufgabe gewachsen ist. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass alles gut gehen wird – schließlich bist du ja auch noch da.«
Shanda sah erstaunt und nicht sehr erfreut aus, als Miss Chadwick ihr von der Ankunft ihres Onkels in London erzählte.
»Aber ich wollte doch morgen mit Gisèle d’Aubray und ihrer Mutter ausgehen, Miss Chadwick«, sagte sie enttäuscht. »Mein Onkel ist gar nicht amüsant. Er grunzt so beim Essen, und es ist alles sehr langweilig.«
»So dürfen Sie nicht über Ihren Onkel sprechen, Shanda. Wie ich höre, ist er nur für eine Woche in England. Natürlich möchte er Sie sehen.«
Shandas mürrisches Gesicht klärte sich plötzlich auf.
»Vielleicht hat er eine neue Heirat für mich arrangiert. Das wäre wunderbar.«
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