Als sie Chatterham erreichten, war der Eindruck des Unwirklichen vollends über den Amerikaner hereingebrochen. Die roten Lichter des Zuges verloren sich am Ende des Schienenstranges. Ein Pfiff ertönte und verebbte in der Ferne. Unangenehm kühle Luft lag über dem Bahnsteig. In einiger Entfernung bellte ein Hund, als der Zug vorüberfuhr; ihm antwortete ein ganzer Chor, der nur widerwillig schwächer wurde. Mit überraschender Lautstärke knirschten ihre Schritte auf dem Kies, als Rampole seinem Gastgeber vom Bahnsteig hinab folgte.
Eine weiße Landstraße wand sich zwischen Bäumen und flachen Wiesen hindurch. Sumpfiger Boden und aufsteigender Nebel, das Schimmern von schwarzem Wasser im Mondschein. Dann Hecken, die nach Weißdorn dufteten. Das helle Grün des Getreides auf den sanft geschwungenen Feldern. Zirpende Grillen, der Geruch von Tau auf Gras. Und Dr. Fell, der mit einem verwegenen Schlapphut, seinen karierten Schal lässig um die Schultern geworfen, auf zwei Stöcken einherstapfte. Er sei nur für einen Tag in London gewesen, erklärte er. Ohne Gepäck. Rampole schritt, eine schwere Reisetasche schwenkend, neben ihm her. Einen Augenblick lang war er überrascht, vor ihnen eine Gestalt zu entdecken - eine Gestalt mit einer Reisekappe und einem schlichten Mantel, die die Straße entlangstürmte, während Funken aus einer Pfeife hinter ihr herstoben. Dann erkannte er Payne. Trotz seines unsicheren Ganges kam er schnell voran. Ungeselliger Kerl! Rampole glaubte fast hören zu können, wie er beim Gehen vor sich hin knurrte. Doch da war keine Zeit, an Payne zu denken. Denn da ging er selbst, voll Abenteuerlust, unter einem weiten, fremden Himmel, an dem ihm nicht einmal die Sterne vertraut waren. Er fühlte sich sehr klein und verloren in diesem alten England.
»Da liegt das Gefängnis«, sagte Dr. Fell.
Sie hatten den Scheitel einer kleinen Anhöhe erreicht und blieben stehen. Die Landschaft fiel vor ihnen ab und weitete sich zu einer Ebene mit flachen Feldern, die von langen Hecken unterbrochen wurden. In einiger Entfernung konnte Rampole, von Bäumen umgeben, den Kirchturm des Dorfes sehen. Bauernhäuser mit silbrigen Fenstern schliefen im schweren Duft der Nacht. Zu ihrer Linken, jenseits einer Eichenallee und in einem gepflegten Park, stand ein schmuckloses, hohes Haus aus rotem Backstein und mit weißen Fensterrahmen. »Das alte Herrenhaus«, bemerkte Dr. Fell über die Schulter. Doch der Amerikaner starrte auf das bucklige Steingebirge zu seiner Rechten. Völlig unpassend an dieser Stelle, roh und mächtig wie Stonehenge, ragten dort die steinernen Mauern des Gefängnisses von Chatterham gen Himmel.
Es war ein wuchtiger Bau, doch wirkte er, vom Mondlicht verzerrt, noch gewaltiger. »Bucklig«, dachte Rampole, »ist genau der richtige Ausdruck.« An einer Stelle schienen die Mauern über den Kamm eines Hügels zu kriechen. Durch Risse im Mauerwerk reckten sich Weinranken wie Finger dem Mond entgegen. Reihen eiserner Spitzen krönten die Mauern, Schornsteine waren umgestürzt. Der Ort sah modrig und schleimig aus, als ob ihn nur noch Kröten bewohnten. Als sei der Sumpf in das Innere des Gebäudes gekrochen und hätte sich dort ausgebreitet.
Unvermittelt meinte Rampole: »Man meint fast, die Insekten kröchen einem über die Haut. Geht's Ihnen auch so?«
Seine Stimme schepperte. Irgendwo quakten Frösche wie quengelnde Kranke. Dr. Fell deutete mit einem Stock hinüber.
»Sehen Sie diesen Buckel dort oben« - seltsam, daß er dasselbe Wort verwendete - »auf der Seite, wo die Föhren stehen? Man hat ihn genau über den Rand eines Abgrunds gebaut; das ist der Hexenwinkel. In alter Zeit, als am Rand des Hügels die Galgen standen, pflegte man den Zuschauern ein besonderes Spektakel zu bieten. Man legte einen langen Strick um den Hals des Verurteilten und stieß ihn dann in den Abgrund. Auf diese Weise hatte er die faire Chance, daß der Strick riß. Damals kannte man die Einrichtung der Falltür noch nicht, wissen Sie.«
Rampole erschauerte. Wieder begann seine Phantasie, Bilder zu entwerfen. Einen heißen Tag, die üppige Landschaft dunkelgrün glühend, staubig die weißen Straßen, Klatschmohn am Wegrand. Ein murmelndes Gedränge von Menschen mit Zopfperücken und Kniehosen. Eine schwarzgewandete Gruppe, die mit einem Karren den Hügel hinaufholpert - und dann jemand, der wie ein böses Pendel über dem Hexenwinkel baumelt. Zum ersten Mal schien ihm die Landschaft wirklich voll murmelnder Stimmen zu sein. Er wandte sich um und fand den Blick des Doktors auf sich gerichtet.
»Was wurde daraus, als das Gefängnis gebaut wurde?«
»Der Hexenwinkel blieb erhalten. Aber man war der Meinung, bei diesem Verfahren sei zu leicht eine Flucht möglich. Die Mauern waren niedrig, es gab zahlreiche Türen. Also grub man eine Art Brunnenschacht unterhalb der Galgen; und weil der Boden ohnehin sumpfig war, füllte er sich schnell mit Wasser. Kam nun jemand los und wagte einen Sprung, dann landete er im Brunnen und - nun -man zog ihn nicht wieder heraus. So zu sterben war nicht angenehm, mit all dem Zeug da unten drin.«
Der Doktor schlurfte weiter, und Rampole ergriff die Reisetasche, um mitzugehen. Eine Unterhaltung an dieser Stelle war nicht sonderlich erfreulich. Die Stimmen schallten sehr laut, und man hatte ständig das ungemütliche Gefühl, belauscht zu werden.
»Das war's auch«, fügte Dr. Fell keuchend nach ein paar Schritten hinzu, »was dem Gefängnis den Rest gab.«
»Wieso?«
»Wenn einer abgeschnitten wurde, nachdem man ihn gehängt hatte, dann ließ man ihn einfach in den Schacht fallen. Als dann die Cholera ausbrach...« Rampole spürte ein Unwohlsein im Magen, fast Übelkeit. Er merkte, daß er trotz der kühlen Luft schwitzte. Kaum hörbar lief ein Flüstern durch die Bäume.
»Ich wohne nicht weit von hier«, fuhr der andere fort, als habe er von nichts Ungewöhnlichem geredet. Er sprach ruhig, wie jemand, der auf die Sehenswürdigkeiten einer Stadt hinweist.
»Wir leben am Rand des Dorfes. Sie können die Galgenseite des Gefängnisses von dort sehr gut sehen - und das Fenster des Gouverneurszimmers ebenfalls.«
Nach einer halben Meile verließen sie die Landstraße und bogen in einen Weg ein. Er führte zu einem geduckten, schläfrigen alten Haus mit einem Fachwerk aus Eichenbalken auf efeubewachsenem Steinsockel. In den geschliffenen Scheiben spiegelte sich matt der Mond. Immergrün rankte um die Tür, und der ungepflegte Rasen war weiß von Gänseblümchen. Ein Nachtvogel klagte verschlafen im Efeu.
»Wir wollen meine Frau nicht aufwecken«, sagte Dr. Fell. »Sie wird einen kalten Imbiß in die Küche gestellt haben und viel Bier. Ich - Was ist denn los?«
Plötzlich straffte sich seine gebeugte Gestalt, und Rampole hörte, wie einer der Stöcke durch das feuchte Gras rutschte. Der Amerikaner starrte über die Wiese hinüber, dorthin, wo sich, weniger als eine Viertelmeile entfernt, eine Seite des Gefängnisses von Chatterham über den Föhren rund um den Hexenwinkel erhob.
Rampole spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
»Nichts«, sagte er laut. Mit sehr viel Nachdruck begann er zu sprechen. »Hören Sie, Sir, ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich hätte ja einen anderen Zug genommen, es gab nur keinen, der zu einer anständigen Uhrzeit hier angekommen wäre. Ich könnte einfach nach Chatterham gehen und mir ein Hotel oder einen Gasthof suchen, oder - «
Der alte Gelehrte kicherte. Es war ein beruhigendes Geräusch an solch einem Ort. »Unsinn!« rief er und schob Rampole an der Schulter vorwärts. »Er glaubt wohl, ich fürchte mich«, dachte Rampole und willigte hastig ein. Während Dr. Fell nach dem Hausschlüssel suchte, spähte Rampole ein letztes Mal zum Gefängnis hinüber.
Vielleicht hatten die Spukgeschichten seine Wahrnehmung beeinflußt. Aber er hätte schwören können, daß er einen Augenblick lang gesehen hatte, wie irgend etwas über die Mauern des Gefängnisses blickte. Und er hatte das schreckliche Gefühl, dieses Etwas sei triefend naß gewesen...
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