»Moment mal! Was ist los, Junge?« wollte er wissen. »Sie sind ja bleich wie ein Gespenst. Was - «
»Wir müssen rüber! Das Licht ist aus! Der - «
Sie waren so erregt, daß sie nicht auf den Regen achteten, der ihnen ins Gesicht klatschte; er rann Rampole in die Augen, und einen Moment lang sah er nichts mehr.
»Nicht so eilig«, sagte Saunders. »Das kommt nur von den scheußlichen Sachen, die Sie gerade gelesen haben. Glauben Sie doch nicht alles! Er wird sich in der Zeit verkalkuliert haben... Warten Sie! Sie kennen doch gar nicht den Weg!«
Rampole hatte sich aus dem Griff des Doktors losgerissen und rannte über den feuchten Rasen zur Wiese hinüber. Sie hörten noch, daß Rampole rief: »Ich habe es ihr versprochen!«, dann rannte der Pfarrer hinter ihm her. Trotz seiner Korpulenz war Saunders ein guter Läufer. Gemeinsam schlidderten sie die glatte Böschung hinab. Rampole fühlte, wie das Wasser in seine Tennisschuhe drang, und stieß gegen einen Zaun. Er sprang hinüber, stürzte einen Abhang hinunter und hastete durch das hohe Gras der Weide den Hügel hinauf. Durch den dichten Vorhang des Regens sah er kaum etwas, bemerkte jedoch, daß er sich instinktiv nach links hielt, zum Hexenwinkel hin. Das war falsch, dort war nicht der Eingang. Doch die Erinnerung an Anthony Starberths Tagebuch stand ihm zu lebendig vor Augen. Saunders schrie etwas hinter ihm her, was sich aber im Krachen und Dröhnen des Donners verlor. Im Licht eines Blitzes sah er den gestikulierenden Pfarrer nach rechts hinüber zum Tor des Gefängnisses laufen, er aber behielt seine Richtung bei.
Wie er das Innere des Hexenwinkels überhaupt erreichte, wußte er später nicht mehr. Eine abschüssige, schlüpfrige Wiese, Gras, das sich ihm wie Drähte um die Beine wickelte; dann Unterholz und Dornengestrüpp, das durchs Hemd stach. Er sah nur noch, daß er auf die Föhren zurannte und die Felswand, die gefährlich vor ihm aufragte. Das Atemholen tat ihm weh, und er lehnte sich an einen nassen Stamm, um sich das Wasser aus den Augen zu wischen. Er wußte, nun war er da. In der Dunkelheit um ihn her war ein häßliches Schwirren und Summen, ein unterdrücktes Platschen; er hatte das Gefühl, als krieche und krabbele es überall. Doch das Schlimmste war der Modergeruch.
Insekten flogen ihm ins Gesicht. Er streckte seine Hand aus, stieß an eine niedrige Mauer aus Stein und spürte den Rost einer Eisenspitze. Es mußte wohl an der Atmosphäre dieses Ortes liegen, daß sein Kopf zu hämmern begann, das Blut schneller strömte und seine Beine schwach wurden. Ein Blitz zuckte hell durch die Bäume... Er sah über die brusthohe Ummauerung des Brunnens und hörte das Platschen des Wassers in der Tiefe.
Nichts.
Niemand hing kopfüber auf einen Stachel gespießt über den Brunnenrand. In einem Taumel quälender Ungewißheit suchte er, die Eisenspitzen umklammernd, seinen Weg um den Brunnen herum. Als er den Fuß der Klippe erreichte und schon erleichtert aufatmen wollte, stieß sein Fuß gegen etwas Weiches.
Fast gelähmt vor Schrecken begann er, behutsam umherzutasten. Er fühlte ein kaltes Gesicht, offenstehende Augen und nasse Haare; doch das Genick schien so biegsam wie Gummi zu sein, denn es war gebrochen. Es bedurfte nicht des jetzt aufzuckenden Blitzes, um zu wissen, daß es Martin Starberth war.
Seine Beine gaben nach, und er taumelte rückwärts gegen die Felsenklippe, fünfzehn Meter unterhalb des Gouverneursbalkons, der sich einen Augenblick zuvor noch schwarz gegen den erleuchteten Himmel abgezeichnet hatte. Ihn schauderte, er fühlte sich durchnäßt und verloren und hatte nur den einen elenden Gedanken: Dorothy Starberth gegenüber versagt zu haben. Überall troff der Regen an ihm herab, der Boden wurde immer schlammiger, und das Tosen des Gewitters schwoll an. Als er mit stumpfen Augen aufsah, erblickte er weit weg, jenseits der Wiese, im Haus Dr. Fells, das gelbe Licht im Fenster seines Zimmers. Es war durch eine Lücke zwischen den Föhren deutlich zu sehen; was ihm an Bildern in den Sinn kam, waren - seltsam genug - einige verstreute Notenblätter auf dem Bett und die Scherben einer Tonpfeife, die zerbrochen auf dem Boden lag.
Mr. Budge, der Butler, machte seine übliche Runde durch das Herrenhaus, um zu prüfen, ob alle Fenster des Hauses fest verschlossen waren, bevor er sich in sein ehrbares Junggesellenbett zurückziehen wollte. Mr. Budge wußte sehr genau, daß die Fenster verschlossen sein würden; das war während der fünfzehn Jahre, die er nun im Amt war, immer so gewesen, und das würde auch so bleiben - zumindest bis das große, backsteinerne Haus untergehen oder >von den Amerikanern aufgekauft und weggeschafft werden würde. Dieses Schicksal jedenfalls beschwor Mrs. Bundle, die Haushälterin, stets mit so unheilverkündender Stimme, als erzähle sie eine Gespenstergeschichte. Dennoch hegte er finsteren Argwohn gegen die Hausmädchen. Er wußte, daß alle Hausmädchen, kaum daß er ihnen den Rücken zukehrte, von dem Verlangen überwältigt wurden, im Haus herumzuschleichen und Fenster zu öffnen, so daß Landstreicher eindringen konnten. Bis zu Einbrechern verstieg sich seine Phantasie Gott sei Dank nicht.
Besonders gewissenhaft durchquerte er mit einer Lampe in der Hand die lange Galerie im oberen Stockwerk; in Kürze würde es regnen. Budges Gemüt war schwer belastet. Nicht von der bevorstehenden Nachtwache des jungen Herrn im Gouverneurszimmer. Das war Tradition, eine seit jeher feststehende Tatsache, wie in Kriegszeiten der Dienst für das Vaterland, den man ebenso stoisch akzeptierte; und wie der Krieg hatte sie ihre Gefahren, das war nun einmal so. Mr. Budge war ein verständiger Mann. Ihm war ebensogut bekannt, daß böse Geister existierten, wie er wußte, daß es Kröten, Fledermäuse und andere unerfreuliche Dinge gab. Doch hegte er den Verdacht, daß selbst die Gespenster in dieser degenerierten Zeit, in der die Hausmädchen zuviel Freizeit hatten, sanft und schwächlich geworden waren. Es war eben alles nicht mehr so wie in den alten Tagen, als sein Vater noch Dienst getan hatte. Doch seine vordringliche Aufgabe war jetzt, dafür zu sorgen, daß bei der Rückkehr des jungen Herrn in der Bibliothek ein anständiges Feuer brannte und dazu ein Teller mit Sandwiches und eine Karaffe Whisky bereitstanden.
Nein, seine Gedanken beschäftigten sich mit ernsteren Problemen. Als er in der Mitte der Eichengalerie die Wand mit den Porträts erreichte, machte er, wie üblich, eine kurze Pause und hielt seine Lampe direkt vor das Bild des alten Anthony. Ein Künstler des achtzehnten Jahrhunderts hatte den schwarzgekleideten Anthony gemalt, wie er die Orden auf der Brust und seine Hand auf einem Totenschädel am Tisch saß. Budge hatte noch volles Haar, und er war ein stattlicher Mann. Trotz Anthonys Vergangenheit liebte er es, Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und dem blassen, reserviert klerikalen Gesichtsausdruck des ersten Gouverneurs festzustellen. Wenn er das Porträt betrachtet hatte, schritt er stets noch gemessener davon. Niemand würde sein dunkles Geheimnis erraten: daß er nämlich weinte bei den traurigen Passagen der Kinofilme, denen er verfallen war, und daß er sich einmal nächtelang schlaflos hin und her gewälzt hatte in der schrecklichen Furcht, Mrs. Tarpon, die Frau des Apothekers, könnte ihn in diesem Zustand während der Vorführung eines amerikanischen Films namens »Der Weg nach Osten« in Lincoln gesehen haben.
Hier besann er sich. Er war fertig mit dem Obergeschoß und ging mit dem würdevollen Schritt eines Gardesoldaten die breite Treppe hinunter. Die Gaslampen in der Eingangshalle brannten gleichmäßig - vielleicht ein leichtes Flackern dort im dritten Glühstrumpf von rechts. Er würde sich nicht wundern, wenn es auch hier demnächst Elektrizität gäbe! Wieder so etwas Amerikanisches! Selbst Mr. Martin war bereits von den Yankees korrumpiert; unbändig war er ja immer gewesen, dabei aber ein wirklicher Gentleman, bis er angefangen hatte, in diesem lauten Kauderwelsch zu reden, das niemand verstehen konnte und das von nichts anderem zu handeln schien als von Bars und Getränken, die nach Piraten benannt und mit Gin gemixt wurden, der doch nur was für alte Weiber und Säufer war. Und sogar einen Revolver trug er, soweit er wußte. »Tom Collins«, das war doch der Pirat? Oder hieß er John Silver? Und dann dieses Zeug, das sie »Sidecar« nannten...
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