Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Die Bilder vor seinem inneren Auge, die so lange verborgen gewesen waren, kamen nun mit einer solchen Klarheit hervor, daß er nicht mehr daran zweifelte, daß seine Deutung richtig war. Er nickte Madeline zu.
»Du weißt, daß das stimmt, nicht wahr?«
»Brian! Woher sollte ich so etwas wissen?«
»Nein, nein, so meine ich das nicht. Aber du bist genauso sicher wie ich, oder? Das ist die Deutung, von der Elliot von Anfang an ausgegangen ist.«
Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie antwortete.
»Ja«, gestand sie. »Etwas in dieser Art hatte ich mir auch zusammengereimt. Jedenfalls bis heute abend, wo Dr. Fells Andeutungen ja überhaupt nicht dazu paßten – was ich ihm auch gesagt habe. Nicht einmal zu dem, was die beiden denken, paßten sie wirklich. Weißt du noch? Gestern meinte er noch, hier in der Gegend gebe es keinen Hexenkult.«
»Und da hat er recht.«
»Aber du hast doch gerade gesagt …«
»Ich habe nur von einer einzelnen Person gesprochen. Einer, und nur der einen. Genau wie Dr. Fell es uns gestern gesagt hat. ›Alles, von der seelischen Grausamkeit bis zum Mord, ist das Werk eines einzigen Menschen‹. Und: ›Lassen Sie sich das gesagt sein – selbst der Satanismus ist ein ehrliches und geradliniges Geschäft im Vergleich zu dem Vergnügen, das sich hier jemand für seinen Verstand ersonnen hat‹. Das müssen wir jetzt nur noch in den richtigen Zusammenhang bringen, wir müssen das Muster finden. Seelische Grausamkeit, intellektuelles Vergnügen, der Tod von Victoria Daly, vage und unbestimmte Gerüchte, daß – was hat Elliot mir erzählt? – im hiesigen Landadel Hexen ihr Unwesen trieben.
Man fragt sich, wie der Betreffende dazu kam. Schiere Langeweile? Schlicht und einfach Lebensüberdruß, weil er nicht in der Lage war, sich über die alltäglichen Dinge des Lebens zu freuen? Eine Neigung, die er oder sie schon seit Kindertagen hatte, die nun unter der Oberfläche verborgen war, aber doch weiterwuchs und sich aus geheimen Quellen nährte?«
»Wie der Betreffende wozu kam?« rief Madeline. »Das ist doch die Frage, die wir immer noch nicht geklärt haben. Was tat er denn wirklich?«
Hinter ihrem Rücken pochte eine Hand an die Glasscheibe, mit einem häßlichen kratzenden Geräusch wie von Krallen.
Madeline stieß einen Schrei aus. Das Klopfen oder der Stoß hatte die Terrassentür, die noch einen Spaltweit offengestanden hatte, fast geschlossen, und das Glas rasselte noch ein wenig im Rahmen. Page zögerte. Das Radio dudelte weiter seine Tanzmusik. Er ging zur Tür und drückte sie auf.
Dr. Fell und Inspektor Elliot kamen nicht mehr zum Bahnhof. Sie verpaßten ihren Zug, denn als sie auf Farnleigh Close anlangten, erfuhren sie, daß Betty Harbottle wieder bei Bewußtsein war und bereit war, mit ihnen zu sprechen.
Auf dem Weg durch den Obstgarten und über den bewaldeten Hügel hatten sie nur ein paar wenige Worte gewechselt. Und hätte ihnen jemand zugehört, hätte er wohl kaum verstanden, wovon sie sprachen. Doch was sie sagten, war von tödlicher Wichtigkeit für die Dinge, die sich nur ein oder zwei Stunden später ereignen sollten, als einer der gerissensten Mörder, die Dr. Fell je begegnet waren, (vielleicht vor der Zeit) mit einer List entlarvt wurde.
Im Wald war es finster und stickig. Sterne blinkten durch das dichte Geflecht der Blätter, und im Strahl, den Elliots Taschenlampe auf den blanken Erdboden des Pfades warf, sah alles Grün gespenstisch aus. Aus dem Dunkel, von dem der Lichtstrahl ausging, waren zwei Stimmen zu hören, der rauhe Tenor des Inspektors und Dr. Fells schnaufender Baß.
»Aber sind wir denn nun dem Beweis auch nur ein Stückchen nähergekommen, Sir?«
»Ich glaube schon. Ich hoffe es. Wenn ich bei einem in unserer Runde den Charakter richtig gedeutet habe, dann wird er uns alles an Beweisen liefern, was wir brauchen.«
»Und wenn Ihre Lösung des Falles wirklich aufgeht.«
»Hmpf. Wenn sie aufgeht. Nichts als Träume und Phantasiegebilde und Spekulation; aber es sollte reichen.«
»Meinen Sie, es könnte da hinten« – Elliot machte eine Bewegung, als wolle er mit dem Kopf über die Schulter in Richtung von Madelines Haus weisen – »gefährlich werden?«
Ein paar Augenblicke lang hörte man nur das Farnkraut an ihren Beinen entlangstreifen, dann antwortete Dr. Fell.
»Teufel noch mal, ich wünschte, ich wüßte es. Aber ich glaube, die Gefahr ist nicht groß. Führen Sie sich noch einmal den Charakter des Mörders vor Augen. Ein verschlagener, irrwitziger Kopf unter dem freundlichen Äußeren – wie unser Automat, der ja auch einmal hübsch war. Aber mit Sicherheit nicht der tobsüchtige Irre, dessen Weg mit Leichen gepflastert ist. Kein Ungeheuer. Ein Mörder, der sich mäßigt, mein Junge. Wenn ich mir ausmale, wer nach der klassischen Theorie, daß ein Mord den nächsten nach sich zieht, schon alles ermordet sein SOLLTE, dann sträuben sich mir die Haare.
Wir haben schon Fälle erlebt, bei denen der Mörder die ursprüngliche Tat bis ins kleinste geplant hatte, und dann packt es ihn plötzlich, und er bringt alles um, was ihm in den Weg kommt. Anscheinend ist es wie bei Oliven im Glas: Man hat unendlich viel Mühe, die erste herauszubekommen, und dann kullern einem die anderen nur so über den Tisch. Ohne daß die Leute sich groß darüber aufregen. Unser Mörder ist human, mein Junge. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich habe nicht vor, ihn für seine vornehme Zurückhaltung zu loben, dafür, daß er so freundlich war, von weiteren Morden abzusehen. Aber liebe Güte, Elliot, überlegen Sie doch nur, wie viele da in Gefahr waren! Betty Harbottle hätte zum Schweigen gebracht werden können. Eine gewisse junge Dame hätte umgebracht werden können. Um das Leben eines gewissen Mannes habe ich von Anfang an gefürchtet. Aber keinen davon hat er angerührt. Ist das Eitelkeit? Oder was sonst?«
Schweigend kamen sie aus dem Wald und stiegen den Hügel hinab. Nur wenige Fenster von Farnleigh Close waren erleuchtet. Sie gingen durch jenen Teil des Gartens, der am weitesten vom Schauplatz des Mordes entfernt lag, und von da nach vorn zur Haustür. Knowles ließ sie ein.
»Lady Farnleigh hat sich zur Ruhe begeben, Sir«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Doch Dr. King bittet mich, Ihnen auszurichten, daß er die Herren nach oben bittet, wenn es Ihnen recht ist.«
»Betty Harbottle ist wieder …?« Elliot hielt inne.
»Jawohl, Sir. Nach allem, was ich höre.«
Elliot pfiff durch die Zähne, als sie die Treppe emporstiegen und den schwach erleuchteten Gang am Grünen Zimmer vorbei zu dem Raum einschlugen, in dem das Mädchen lag. Dr. King hielt sie noch einen Moment lang in der Tür fest, bevor er sie eintreten ließ.
»Also«, sagte King in seiner kurz angebundenen Art. »Fünf Minuten, höchstens zehn – nicht mehr. Ich will Sie warnen. Sie wird Ihnen so ruhig und unbekümmert vorkommen, als erzähle sie Ihnen von einem Ausflug, den sie gemacht hat. Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Das gehört zur normalen Reaktion, und sie hat eine Dosis Morphin intus. Sie werden feststellen, daß sie ein aufgewecktes Mädel ist und einigermaßen intelligent – Neugier war schon immer Bettys auffälligster Wesenszug –; heizen Sie das nicht noch mehr an mit allzu vielen Andeutungen und Geheimnistuerei. Verstanden? Gut. Dann hinein mit Ihnen.«
Mrs. Apps, die Haushälterin, schlüpfte hinaus, als sie eintraten. Es war ein großes Zimmer, und jede Lampe in dem altmodischen Kronleuchter brannte. Sonst war der Raum eher bescheiden: An den Wänden hingen große, altväterlich wirkende Fotografien von Farnleighs, und auf der Frisierkommode stand eine Menagerie aus Porzellantieren. Das Bett war schwarz und schmucklos. Von dort betrachtete Betty sie mit einem gewissen Interesse.
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