»Was weißt du?«
Sie wies mit dem Kopf in Richtung Garten. »Was vorhin da draußen gestanden hat und jetzt nicht mehr da ist. Ich habe es von der Hintertür aus gesehen, als ich in der Küche war. Ich wollte dir keine Sorgen machen, für den Fall, daß du es noch nicht gesehen hattest – auch wenn ich, na ja, wenn ich ziemlich sicher war, daß du es wußtest.« Sie packte ihn am Aufschlag seines Jacketts. »Geh nicht da hinaus. Geh ihm nicht nach. Das will es doch gerade – dich hinauslocken.«
Er blickte hinunter, sah die flehenden Augen, den kräftigen Hals, den sie ihm entgegenreckte. Entgegen allem, was er in diesem Augenblick dachte und empfand, waren seine Worte kühl und streng.
Er sagte:
»Unter all den absurden Orten, an denen man sagen könnte, was ich jetzt sagen will, ist dies hier der absurdeste. Unter allen unpassenden Zeiten, zu denen man sagen könnte, was ich sagen will, ist dies die unpassendste. Das muß ich betonen, denn ohne eine so verzweifelte Lage bekäme ich niemals heraus, was ich auf dem Herzen habe, und das ist, daß ich dich liebe.«
»Dann ist ja doch noch etwas Gutes am Lammas Eve«, sagte Madeline und hob ihren Mund.
Es ist die Frage, wie weit in einem Bericht über einen Kriminalfall die Dinge, die er in jenem Augenblick dachte und sprach, niedergelegt werden sollten. Aber wer weiß, ob er ohne die Bedrohung, die draußen vor dem Fenster gerade jenseits des Lichtscheins lauerte, jemals erfahren oder gehört hätte, was er nun erfuhr und hörte. Nicht daß er sich in jenem Augenblick darum Gedanken gemacht hätte. Er war mit anderen Dingen beschäftigt: dem Paradox, wie fern und geheimnisvoll ein geliebtes Gesicht aussieht, gerade wenn es einem so nahe kommt, der magischen Wirkung von Madelines Kuß, der sein ganzes Leben veränderte und von dem er selbst jetzt noch nicht glauben konnte, daß er Wirklichkeit war. Am liebsten hätte er einen Freudenjuchzer ausgestoßen, und nachdem noch etliche Minuten an diesem Fenster vergangen waren, tat er das auch.
»Herrgott, Brian, warum hast du mir das denn nicht schon lange gesagt?« fragte Madeline halb lachend und halb weinend. »Aber keine lästerlichen Flüche! Wo bleibt nur meine gute Erziehung? Verrate mir nur, warum hast du es nicht gesagt?«
»Weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß du dich für mich interessierst. Ich wollte nicht, daß du mich auslachst.«
»Hast du wirklich gedacht, ich würde lachen?«
»Ehrlich gesagt – ja.«
Sie faßte ihn bei den Schultern und blickte ihm forschend ins Gesicht. Ihre Augen hatten ein seltsames Leuchten.
»Brian, du liebst mich wirklich, nicht wahr?«
»Schon seit einer ganzen Weile versuche ich, dir das verständlich zu machen. Aber ich habe nichts dagegen, noch einmal von vorn anzufangen. Wenn …«
»Eine alte Jungfer wie mich …«
»Madeline, ganz gleich, was du sonst sagst, bitte sage nicht alte Jungfer. Es gibt kaum ein häßlicheres Wort in unserer Sprache. Kaum eins, das so voller Häme ist. Um dich zu beschreiben, da müßte man …«
Wieder fiel ihm das seltsame Leuchten in ihren Augen auf.
»Brian, wenn du mich wirklich liebst (wirklich?), kann ich dir dann etwas zeigen?«
Draußen im Garten waren Schritte zu hören. Madeline hatte ihre Frage in einem merkwürdigen Ton gestellt, so merkwürdig, daß es Page aufhorchen ließ; doch nun blieb keine Zeit mehr, um nachzufragen. Als sie das Geräusch im Gras hörten, traten sie rasch einen Schritt auseinander. Zwischen den Lorbeerbüschen zeichneten sich nun Umrisse ab und kamen näher. Es war eine hagere Gestalt mit schmalen Schultern, und sie ging mit raschen und doch zugleich schlurfenden Schritten – woran Page zu seiner Erleichterung erkannte, daß es nur Nathaniel Burrows war.
Anscheinend konnte Burrows sich nicht entscheiden, ob er sein Heilbuttsgesicht aufsetzen oder ob er lächeln sollte, und der Kampf zwischen beiden brachte eine freundliche Grimasse hervor. Die große Hornbrille ließ das Pendel aber doch zum Ernsthaften ausschlagen. Das lange Gesicht, das durchaus charmant sein konnte, wenn er ihm eine Chance dazu ließ, zeigte von diesem Charme nun bestenfalls einen Anflug. Den korrekten Bowlerhut hatte er in einem etwas verwegenen Winkel auf dem Kopf.
»Ts! ts!« war sein einziger Kommentar, doch er lächelte dazu. »Ich komme«, erklärte er freundlich, »um den Automaten zu holen.«
»Den …« Madeline sah ihn mit großen Augen an. »Den Automaten?«
»Du solltest nicht am offenen Fenster stehen«, tadelte Burrows streng. »Es verwirrt dir den Kopf, und die Besucher haben den Schaden davon. Und du auch nicht«, fügte er an Page gewandt hinzu. »Die Puppe, Madeline. Die Figur, die du heute nachmittag von Farnleigh Close hast kommen lassen.«
Page musterte sie. Sie starrte Burrows an, und die Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Nat, was um alles in der Welt redest du da? Die Figur, die ich habe kommen lassen? Wie kommst du denn auf so etwas?«
»Meine liebe Madeline«, erwiderte Burrows, breitete die behandschuhten Hände aus und brachte sie dann wieder zusammen, »ich habe dir noch gar nicht richtig für all das Gute danken können, das du für mich getan hast – bei der gerichtlichen Untersuchung. Aber verdammt noch mal!« – hier sah er sie von der Seite her an, an den Brillengläsern vorbei –, »du hast heute nachmittag im Herrenhaus angerufen und gebeten, daß sie dir das Ding leihen. Macneile und Parsons haben es hergebracht. Es steht drüben im Kohlenschuppen.«
»Du mußt vollkommen verrückt sein«, sagte Madeline mit hoher, verblüffter Stimme.
Burrows war, wie üblich, vernünftig. »Nun, sie steht im Schuppen, das ist nicht zu leugnen. Ich habe an der Haustür geklopft, aber keiner hat mich gehört. Ich kam hier heraus, und – ähm – es hat mich immer noch keiner gehört. Mein Auto steht draußen auf der Straße. Ich bin hergekommen, um den Automaten zu holen. Was du damit wolltest, weiß ich nicht; aber wäre es sehr schlimm, wenn ich ihn wieder mitnähme? Ich verstehe immer noch nicht ganz, wie er in meine Theorie hineinpaßt. Aber ich habe einen Experten ausfindig gemacht, der ihn sich ansehen will, und vielleicht bringt mich das auf etwas.«
Der Kohlenschuppen war ein Anbau ein wenig links von der Küche. Page ging hinüber und öffnete die Tür. Dort stand der Automat. Er konnte die Umrisse gerade noch erkennen.
»Seht ihr?« sagte Burrows.
»Brian«, beteuerte Madeline recht verwirrt, »glaube mir, ich habe nichts dergleichen getan. Ich habe niemanden gebeten, das Ding hierherzuschicken; ich wäre nie auf den Gedanken gekommen. Was um alles in der Welt sollte ich damit?«
»Natürlich hast du das nicht, das weiß ich doch«, beschwichtigte Page sie. »Es scheint, daß jemand sich einen häßlichen Scherz erlaubt hat.«
»Sollen wir nicht ins Haus gehen?« schlug Burrows vor. »Ich würde mich gern mit euch beiden darüber unterhalten. Ich gehe nur eben nach vorn und schalte das Standlicht an.«
Die beiden anderen gingen ins Haus und sahen einander an. Aus dem Radio kamen statt der Musik nun Worte – welcher Art, weiß Page nicht mehr –, und Madeline stellte es ab. Sie war immer noch in Gedanken bei diesem jüngsten Vorfall.
»Das alles ist nicht wahr«, sagte sie. »Es ist Illusion. Ein Traumgespinst. Das heißt – ein Teil davon ist doch wahr, hoffe ich.« Sie lächelte ihn an. »Hast du noch eine Ahnung, was hier eigentlich vorgeht?«
Was in den Sekunden darauf geschah, weiß Page bis heute nicht recht. Er hatte ihre Hand ergriffen und wollte ihr eben versichern, wie ganz und gar gleichgültig ihm war, was draußen geschah, solange nur die Minuten am Fenster keine Illusion gewesen waren. Beide hörten sie den Knall, der vom Garten oder von den Obstbäumen herkam. Es war ein kurzer, knapper Schlag, laut genug, daß sie beide zusammenfuhren. Doch er schien etwas Fremdes, das nichts mit ihnen zu tun hatte, selbst da noch, als sie nahe an ihren Ohren ein Sirren hörten – und eine der Uhren stehenblieb.
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