Madeline brauchte recht lange, um sich die Nase zu pudern. Wieder kam eine Motte durch das offene Fenster geflattert und landete auf dem Tisch. Vorhänge und Kerzenflammen flackerten ein wenig. Es war wohl besser, die Fenster zu schließen. Er durchquerte den hell erleuchteten Raum und trat noch einmal durch eine der verglasten Türen in den Garten hinaus, und dann stand er plötzlich mäuschenstill.
Im Garten, gerade außerhalb des erleuchteten Rechtecks, das die Lichter von drinnen durch die Fenster warfen, wartete der Automat von Farnleigh Close.
Vielleicht acht Sekunden lang stand er nur da und sah ihn an, so reglos wie der Automat selbst.
Das Licht, das durch die Fenster kam, war leicht gelblich. Es leuchtete drei oder vier Meter hinaus auf den Rasen, gerade bis an den einst lackierten Sockel der Figur. Größere Risse denn je klafften auf ihrem wächsernen Gesicht; nach ihrem Treppensturz saß sie nun ein wenig schief auf dem Sofa, und die Hälfte der Uhrwerke aus ihrem Inneren war fort. Jemand hatte versucht, das zerschlissene Kleid über die beschädigten Stellen zu ziehen. Alt und schrundig und halb blind funkelte sie ihn aus dem Schatten der Lorbeerbüsche böse an.
Zu seinem nächsten Schritt mußte er sich zwingen. Vorsichtig ging er zu der Figur hinüber, auch wenn er sich weiter vom Licht entfernte, als vernünftig war. Sie schien allein; jedenfalls kam es ihm so vor. Die Räder waren, wie ihm auffiel, repariert. Doch der Boden war so ausgedörrt von der langen Julidürre, daß sie kaum Rillen im Gras hinterlassen hatten, und nicht weit zur Rechten kam ein Kiesweg, auf dem sich jede Spur verlieren würde.
Eilig kehrte er ins Haus zurück, denn er hörte Madeline die Treppe herunterkommen.
Mit aller Sorgfalt verschloß er die Glastüren, eine nach der anderen. Dann ergriff er den schweren Eichentisch und trug ihn in die Mitte des Raumes. Zwei der Kerzenhalter kamen ins Schwingen. Als Madeline in der Tür erschien, sah sie, wie er den Tisch absetzte und sie beide auffing.
»Die Motten kommen herein«, erklärte er.
»Aber wird das nicht furchtbar stickig hier drin? Sollten wir nicht wenigstens eines …«
»Ich mache das schon.« Er öffnete die mittlere der Glastüren einen Spaltbreit.
»Brian! Ist etwas nicht in Ordnung?«
Wieder kam ihm in aller Klarheit das Ticken der Uhren zu Bewußtsein; doch am meisten spürte er nun die Gegenwart Madelines, die unwillkürliche Bitte, sie zu beschützen. Wenn Menschen nicht wohl in ihrer Haut ist, äußert sich das oft auf die seltsamste Art. Nun kam sie ihm nicht mehr so kühl und unnahbar vor. Ihre Aura – es gab kein anderes Wort dafür – erfüllte den ganzen Raum.
Er sagte:
»Aber nein, um Himmels willen; natürlich ist alles in Ordnung. Ich dachte nur einfach, Motten sind lästig. Deswegen habe ich die Fenster zugemacht.«
»Sollen wir ins andere Zimmer gehen?«
Besser das Ding nicht aus den Augen verlieren. Besser, wenn man es nicht einfach gehen ließ, wohin es wollte.
»Ach, laß uns hierbleiben und noch eine Zigarette rauchen.«
»Gern. Noch etwas Kaffee?«
»Mach dir nicht die Umstände.«
»Das sind keine Umstände. Er steht schon fertig auf dem Herd.«
Sie lächelte, das breite Lächeln eines Menschen, dessen Nerven bloßliegen, und ging hinüber in die Küche. Er zwang sich, nicht aus dem Fenster zu sehen, während sie draußen war. Es schien ihm, daß sie lange fortblieb, und er machte sich auf die Suche nach ihr. Sie kam ihm in der Tür entgegen, eine frische Kanne Kaffee in der Hand. Ihre Stimme war ruhig.
»Brian, hier ist etwas nicht in Ordnung. Die Hintertür war offen. Ich weiß, daß ich sie verschlossen hatte, und Maria schließt sie immer ab, wenn sie nach Hause geht.«
»Dann hat Maria es eben diesmal vergessen.«
»Ja. Da hast du wahrscheinlich recht. Es ist schon albern, wie ich mich anstelle. Wirklich. Laß uns sehen, ob wir etwas zum Aufmuntern finden.«
Es schien, als erwache sie aus einem Traum, mit einem entschuldigenden und doch trotzigen Lachen, und ihr Gesicht bekam wieder mehr Farbe. In einer Zimmerecke, so dezent wie Madeline selbst, stand ein Radio. Sie schaltete es ein. Ein paar Sekunden vergingen, bis es sich aufgewärmt hatte; dann schwoll es zu einer solchen Lautstärke an, daß sie beide zusammenfuhren.
Sie stellte es leiser, aber das Auf und Ab eines Tanzorchesters erfüllte den Raum wie die Brandung der See. Die Melodien schienen wie gewohnt, die Ansagen noch lästiger als sonst. Madeline hörte ein paar Augenblicke lang zu. Dann kehrte sie an den Tisch zurück, nahm Platz und goß für sie beide Kaffee ein. Sie setzten sich im rechten Winkel zueinander, so nahe, daß er ihre Hand hätte berühren können. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster. Und immer hatte er das Gefühl, daß da etwas draußen war, etwas, das wartete. Er überlegte, was er tun sollte, wenn ein schrundiges Gesicht sich hinter der Glasscheibe zeigte.
Doch nicht nur seine Nerven konnte er spüren – auch sein Gehirn war nun endlich wieder in Gang gekommen. Es war, als erwache er aus einem Traum. Es war, als fasse er zum erstenmal wieder klare Gedanken, als fielen Fesseln von ihm ab und als sprengte sein Gehirn die eisernen Bänder, die es gefangenhielten.
Was wußte er über diese Puppe? Sie bestand aus leblosem Eisen und Uhrwerken und Wachs. Für sich genommen, war sie nicht gefährlicher als ein Küchenherd. Das konnte er mit Bestimmtheit sagen, denn sie hatten sie untersucht. Sie stand nur zu dem Zweck dort draußen, zu erschrecken ; die Absicht eines Menschen steckte dahinter, eine greifbare Hand.
Sie war nicht aus eigenem Antrieb über den Pfad von Farnleigh Close herübergekommen wie eine böswillige Alte im Rollstuhl. Sie war hergebracht worden, um sie zu erschrecken, und auch das wies wiederum auf eine eindeutige Absicht, eine eindeutige Hand. Und es schien ihm, daß dieser Automat sich bestens in ein Muster fügte, das sich bei diesem Fall schon von Anfang abzeichnete und das er eigentlich auch von Anfang an hätte sehen sollen …
»Gut«, riß Madeline ihn aus seinen Gedanken, »laß uns darüber reden. Es wäre wohl wirklich besser.«
»Darüber?«
»Über alles«, sagte Madeline und ballte die Fäuste. »Ich – ich glaube, ich weiß mehr darüber, als du denkst.«
Nun galt seine Aufmerksamkeit von neuem ganz ihr. Wieder hatte sie die Hände flach auf den Tisch gelegt, als wolle sie sich davon abstoßen. Das leise, ängstliche Lächeln hielt sich noch um Augen und Mund. Doch nun war sie still, beinahe kokett, und nie war sie ihm verlockender vorgekommen.
»Ich frage mich, ob du wohl weißt, was ich erraten habe«, sagte er.
» Das wüßte ich auch gern.«
Er behielt den offenen Fensterspalt ständig im Auge. Er hatte den Eindruck, daß er weniger zu Madeline, sondern eher zu etwas dort draußen sprach, etwas, das dort lauerte und dessen Gegenwart das ganze Haus umfaßte.
»Wahrscheinlich geht es mir gleich besser, wenn ich das erst einmal von der Seele habe«, fuhr er fort, den Blick nach wie vor auf das Fenster geheftet. »Laß mich zuerst etwas fragen. Hast du je davon gehört, daß es hier in der Gegend einen – einen Hexenkult gibt?«
Sie zögerte.
»Ja. Gerüchte habe ich gehört. Warum?«
»Es geht um Victoria Daly. Die wichtigsten Fakten habe ich gestern von Dr. Fell und Inspektor Elliot erfahren; ich hatte sogar alles, was ich brauchte, um sie zu deuten – ich war nur nicht gewitzt genug, mir alles zusammenzureimen. Aber jetzt ist es mir aufgegangen. Wußtest du, daß sich nach dem Mord an Victoria herausstellte, daß ihr Körper mit einer Substanz eingerieben war, einer Mischung aus Rübensaft, Eisenhut, Fingerkraut, Tollkirsche und Ruß?«
»Warum erzählst du mir das? Was haben denn diese ganzen gräßlichen Dinge mit unserem Fall zu tun?«
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