»Eine ganze Menge. Diese Mischung ist ein Rezept, eines von mehreren, für die berühmte Hexensalbe – tu nicht so, als hättest du noch nie davon gehört –, mit der die Hexen sich einrieben, bevor sie auf den Sabbat gingen. * [* Eine pharmakologische Analyse dieser Salben findet sich bei Margaret Alice Murray, The Witch-Cult in Western Europe ( Oxford University Press, 1921), Anhang V, S. 279 f., und J. W. Wickwar, Witchcraft and the Black Art (Herbert Jenkins, 1925), S. 36 – 40. Siehe auch Montague Summers, History of Witchcraft and Demonology (Kegan Paul, 1926).] Eine Zutat fehlt – das Fleisch eines Kindes –, aber ich nehme an, selbst beim sorgfältigsten Mörder hat der Realismus Grenzen.«
»Brian!«
Denn das Bild, das vor seinem inneren Auge aus dem ganzen raffinierten Gewirr von Ereignissen heraus allmählich Gestalt annahm, war weniger das eines Hexenmeisters als eher das Bild eines Mörders.
»Doch, glaube mir. Ich verstehe ein wenig von diesen Dingen, und ich weiß gar nicht, warum ich nicht gleich darauf gekommen bin. Jetzt überlege einmal, was wir daraus folgern können – was auf der Hand liegt und was Dr. Fell und der Inspektor schon vor langem daraus geschlossen haben. Und ich meine nicht die Tatsache, daß Victoria sich mit satanistischen Praktiken abgegeben oder zumindest so getan hat. Das ist offensichtlich.«
»Wieso?«
»Mal es dir doch aus. Sie reibt sich am Lammas Eve mit dieser Salbe ein, am Vorabend einer der großen Hexenversammlungen. Sie wird um Viertel vor zwölf umgebracht, und der Sabbat beginnt um Mitternacht. Da können wir doch davon ausgehen, daß sie die Salbe aufgetragen hatte, ein paar Minuten bevor der Mörder kam. Der Mord geschieht in ihrem Schlafzimmer im Erdgeschoß, und das Fenster steht weit offen: der traditionelle Weg, auf dem die Hexen das Haus zum Sabbat verließen – oder glaubten, daß sie es verließen.«
Er sah sie nicht an, aber er hatte doch das Gefühl, daß Madeline ein wenig die Stirn runzelte.
»Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst, Brian. Du sagst, die Hexen glaubten, daß sie das Haus verließen, weil sie …«
»Darauf komme ich gleich noch. Aber zuerst die Frage: Was sagt uns das über ihren Mörder? Das Wichtigste ist folgendes: Ganz gleich, ob nun der Landstreicher Victoria Daly umbrachte oder nicht, war auf alle Fälle eine dritte Person im Haus, entweder zur Tatzeit oder kurz darauf.«
Madeline sprang vom Stuhl auf. Er blickte sie nicht an, doch er spürte, wie ihre großen blauen Augen auf ihn gerichtet waren.
»Wieso das, Brian? Das verstehe ich nicht.«
»Weil sie sich mit der Salbe eingerieben hatte. Hast du eine Vorstellung, was ein solches Mittel bewirken würde?«
»Ungefähr. Aber sage es mir.«
»Aus den letzten sechs Jahrhunderten«, fuhr er fort, »haben wir eine stattliche Zahl von Zeugnissen derer, die behaupten, sie hätten an Hexensabbaten teilgenommen und Satan sei ihnen erschienen. Was einen, wenn man diese Zeugnisse liest, immer wieder wundert, ist die absolute Sicherheit, die Sorgfalt im Detail, mit der Leute Dinge beschrieben haben, die unmöglich wahr sein können. Wir können, historisch gesehen, nicht leugnen, daß es vom Mittelalter bis zum siebzehnten Jahrhundert Hexenkulte tatsächlich gegeben hat und daß sie beträchtliche Macht hatten. Sie waren nicht minder gut organisiert und geführt als die christliche Kirche. Aber was soll man von den Reisen durch die Luft halten, den Wundern und Gespenstern, den Geistern und Dämonen, den Inkuben und Sukkuben? Man kann sie nicht als Tatsache ansehen (jedenfalls kann ich mit meinem praktischen Verstand das nicht), und doch werden sie von einer großen Zahl von Leuten als solche präsentiert, Leuten, die nicht schwachsinnig und nicht hysterisch waren und auch nicht unter Folter aussagten. – Nun, was würde jemanden dazu bringen, daß er das alles für bare Münze nimmt?«
»Eisenhut und Fingerkraut«, antwortete Madeline mit ruhiger Stimme. »Oder Tollkirsche.«
Sie sahen sich an.
»Ich glaube, das ist die Erklärung«, bestätigte er, noch immer den Blick auf das Fenster geheftet. »Ein Gutteil der Wissenschaft ist der Ansicht – und einer sehr vernünftigen Ansicht, finde ich –, daß viele dieser ›Hexen‹ nie ihr Haus, ja nicht einmal ihr Zimmer verlassen haben. Sie glaubten, sie seien beim Sabbat auf dem Hexenhügel gewesen. Sie glaubten, durch Zauberkraft seien sie zum entweihten Altar geflogen, zu ihrem dämonischen Geliebten. Sie glaubten es, weil die beiden Hauptzutaten zur Hexensalbe Eisenhut und Tollkirsche waren. Weißt du, wie solche Gifte wirken, wenn man sie äußerlich auf die Haut reibt?«
»Mein Vater hatte ein Buch zur Gerichtsmedizin hier«, sagte Madeline. »Ich könnte nachsehen, ob …«
»Tollkirsche oder Belladonna, durch die Poren der Haut aufgenommen – und die Haut an den Fingernägeln –, versetzt den Körper binnen kurzem in Erregung; dann folgen wilde Halluzinationen und Delirium, schließlich verliert man das Bewußtsein. Dazu kommt die Wirkung des Eisenhuts: geistige Verwirrung, Benommenheit, Bewegungsstörungen, unregelmäßiger Herzrhythmus, am Ende ebenfalls Bewußtlosigkeit. Ein Verstand, der voll ist von den Beschreibungen der Hexenfeiern (Victoria Daly hatte ein Buch mit solchen Beschreibungen auf dem Nachttisch), sorgte für den Rest. Und das ist die Erklärung. Ich denke, wir wissen, wie sie am Lammas Eve ›zum Hexensabbat flog‹.«
Madeline ließ ihre Finger die Tischkante entlangspazieren. Sie musterte sie. Dann nickte sie.
»J-ja. Aber selbst wenn das so war, Brian – wieso beweist das, daß in der Nacht, in der sie umkam, noch jemand anderes im Haus war? Ich meine, noch jemand außer Victoria und dem Landstreicher, der sie umbrachte?«
»Weißt du noch, was sie anhatte, als man den Leichnam fand?«
»Sicher. Nachthemd, Morgenrock und Pantoffeln.«
»Genau – das hatte die Tote an. Darum geht es. Ein frisch gewaschenes Nachthemd – von dem schönen Morgenmantel ganz zu schweigen – über der fettigen, rußigen Salbe? Sehr unbequem, und hinterher schwer zu waschen. Wollte sie im Morgenmantel zum Hexenhügel fahren? Zum Sabbat trugen die Hexen höchstens ein paar Lumpen, die sie nicht in ihren Bewegungen behinderten und die Salbe nicht verwischten – wenn sie überhaupt etwas anhatten.
Kannst du dir nicht ausmalen, was geschah? Die Frau lag im Delirium, fast schon bewußtlos, in dem dunklen Haus. Ein armer Herumtreiber sieht ein Haus ohne Licht und ein offenes Fenster, denkt, da ist leicht etwas zu holen. Statt dessen trifft er auf eine Frau, die von Sinnen ist, die im Delirium schreit – und das muß ja ein ziemliches Schreckgespenst gewesen sein, das da aus dem Bett aufsprang und ihm entgegenkam. Er verlor den Kopf und brachte sie um.
Kein Mensch, der im Rausch dieser Salbe war, hätte Nachthemd, Morgenmantel und Pantoffeln angezogen. Der Mörder hätte sie ihr nicht übergestreift. Er wurde schon entdeckt, bevor er noch seine Beute zusammenhatte, und die Verfolgungsjagd begann.
Aber da war noch jemand in dem dunklen Haus. Da lag Victoria Daly, tot, den Körper mit der Salbe eingerieben, in einem seltsamen Kostüm, das für einen gewaltigen Skandal sorgen würde, wenn man sie so fand. Womöglich kam sogar ein Schlaumeier, der erriet, was vorgegangen war. Um das zu verhindern, schlich sich diese dritte Person ins Schlafzimmer, bevor sonst jemand die Tote gesehen hatte. (Erinnerst du dich? Die beiden Männer, die die Schreie hörten, sahen, wie der Mörder aus dem Fenster kletterte, und setzten ihm nach; erst eine Weile später kehrten sie zurück.) Die dritte Person streifte ab, was Victoria an ›Hexenkleidern‹ getragen haben mag, und steckte den Leichnam in ein braves Nachthemd, in Morgenrock und Pantoffeln. So war es. Das ist die Erklärung. So ist es zugegangen.«
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