»Dann darf ich dich an das Seerecht erinnern«, erwiderte Fidelma langsam mit sorgfältiger Betonung. Sie hätte sich zu gern besser darin ausgekannt, verließ sich aber darauf, daß der Seemann es noch weniger kannte als sie. »Erstens bin ich eine dalaigh und untersuche einen Mordfall. Zweitens ist dein Schiff zwar ein Schiff aus Laigin, es ankert aber in einer Bucht von Muman. Es hat weder um die Erlaubnis noch die Gastfreundschaft von Muman nachgesucht.«
»Da irrst du dich, Schwester.« Der Triumph in der Stimme des Seemanns war unverhohlen. »Wir ankern hier mit Erlaubnis von Salbach, dem Fürsten der Cor-co Loigde.«
Fidelma war froh, daß das Licht der Laternen ihr nicht voll ins Gesicht fiel. Sie schluckte vor Verblüffung. Stimmte es, daß Salbach dem Schiff aus Laigin die Erlaubnis erteilt hatte, die Abtei von Ros Ailithir einzuschüchtern? Was hatte das zu bedeuten? Das würde sie bestimmt nicht erfahren, wenn sie gezwungen wäre, sich wie ein geprügelter Hund mit dem Schwanz zwischen den Beinen fortzuschleichen. Ein Bluff war einen Versuch wert. Was hatte der Brehon Morann einmal gesagt? »Ohne ein gewisses Maß an Täuschung läßt sich kein großes Unternehmen durchführen.«
»Der Fürst der Corco Loigde mag dir die Erlaubnis erteilt haben, aber diese Erlaubnis ist nicht rechtmäßig ohne die Zustimmung des Königs in Cashel.«
»Cashel ist viele Meilen weit weg, Schwester«, spottete der Seemann. »Was der König von Cashel nicht weiß, darüber kann er nicht entscheiden.«
»Aber ich bin hier. Ich bin die Schwester von Colgü, dem König von Cashel. Und ich kann im Namen meines Bruders sprechen.«
Es herrschte Schweigen, während der Seemann das verdaute. Sie hörte, wie er schwer ausatmete.
»Nun gut, Lady«, antwortete er mit etwas mehr Respekt in der Stimme. »Was suchst du hier?«
»Ich will den Kapitän dieses Schiffes unter vier Augen sprechen.«
»Ich bin der Kapitän«, antwortete der Mann. »Komm nach achtern in meine Kajüte.«
Fidelma sah Cass an.
»Warte hier auf mich, Cass. Es wird nicht lange dauern.«
Cass schien davon nicht gerade begeistert zu sein.
Der Seemann führte sie zum Heck des Schiffes und in eine Kajüte unter Deck. Sie war klein und eng und roch stark nach einem beengt lebenden Mann, Körpergeruch vermischte sich mit dem Gestank der Öllampen und anderen Gerüchen, die sie nicht identifizieren konnte. Einen Moment bedauerte sie, daß sie nicht an der frischen Luft auf Deck mit dem Kapitän sprach, aber sie wollte den neugierigen Ohren der Matrosen und Krieger entgehen.
»Lady.« Der Kapitän deutete auf den einzigen Stuhl in der engen Kajüte und warf sich auf ein Ende seiner Koje.
Fidelma ließ sich vorsichtig auf dem schmalen Holzstuhl nieder.
»Du hast einen Vorteil vor mir, Kapitän«, begann Fidelma, »Du kennst meinen Namen, aber ich weiß deinen nicht.«
Der Seemann grinste.
»Mugron. Ein passender Name für einen Seemann.«
Fidelma mußte ebenfalls lächeln. Der Name bedeutete »Seehundjunge«. Dann kam sie zu dem Grund ihres Besuchs zurück.
»Also, Mugron, zuerst möchte ich wissen, warum du hier in der Bucht von Ros Ailithir bist.«
»Ich bin hier auf Befehl meines Königs Fianamail von Laigin«, antwortete Mugron.
»Das erklärt noch nichts. Bringst du Frieden oder Krieg?«
»Ich bin gekommen, um Abt Brocc von Ros Ai-lithir die Botschaft meines Königs zu übermitteln, daß er ihn für den Tod seines Vetters, des Ehrwürdigen Dacan, verantwortlich macht.«
»Die Botschaft hast du ausgerichtet. Was suchst du hier noch?«
»Ich soll hier warten, um sicherzustellen, daß Brocc zu gegebener Zeit die Verantwortung übernimmt. Mein König wünscht nicht, daß er aus Ros Ailithir verschwindet, bevor die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara zusammentritt. Der Brehon meines Königs hat uns erklärt, daß dies nach dem Pfändungsrecht zulässig ist. Wie ich schon sagte, habe ich die Erlaubnis Salbachs, hier zu ankern.«
Fidelma erinnerte sich an ein Gesetz, das sie schon halb vergessen hatte, und erkannte, daß Mugrons Schiff vom Standpunkt dieses Gesetzes aus legal hier vor Anker lag. Juristisch gesehen war das Schiff vor der Abtei, um Brocc zu zwingen, seine Verantwortung für den Tod Dacans zuzugeben, auch wenn er die Tat nicht selbst begangen hatte; und bis der Gegenbeweis angetreten wurde, durfte das Schiff hier liegen. Das Gesetz ging sogar noch weiter und berechtigte Abt Noe als den nächsten Verwandten Dacans, ein rituelles Fasten gegen Brocc durchzuführen, bis er seine Schuld anerkannte.
»Du hast Brocc die Botschaft überbracht, als du hier ankamst. War das eine offizielle apad - die Ankündigung dieses Verfahrens?«
»Das war es«, bestätigte Mugron. »Es wurde entsprechend den Anweisungen des Brehons meines Königs vollzogen.«
Fidelma preßte ärgerlich die Lippen zusammen.
Sie hätte die Situation schon früher erkennen müssen, als sie das Bündel verschlungener Weiden- und Espenzweige sah, das am Tor der Abtei hing. Dies war das Zeichen eines Pfändungsverfahrens gegen einen Klostervorsteher. Es war lange her, daß sie auf den als Di Chetharshlicht Athgabala bekannten Gesetzestext zurückgreifen mußte, der das komplizierte Vorgehen bei Pfändungen regelte. Sie erinnerte sich nur noch, daß man bei diesem Gesetz drei Fehler machen durfte, ohne eine Geldstrafe zahlen zu müssen, weil es so kompliziert war. Sie gestand sich als ihren ersten Fehler zu, daß sie das Pfändungsrecht vergessen hatte.
Das wettergebräunte Gesicht des Seemanns verzog sich spöttisch, während er ihr Mienenspiel beobachtete.
»Der König von Laigin achtet das Gesetz höher als alles andere, Lady«, erklärte er mit sanfter Bosheit.
»Über das Gesetz will ich auch mit dir reden, nachdem ich nun weiß, weshalb du hier bist«, entgegnete Fidelma lebhaft.
»Was soll ein einfacher Seemann wie ich schon vom Gesetz wissen?« konterte Mugron. »Ich tue, was mir befohlen wird.«
»Du hast zugegeben, daß du hier als Ausführender des Gesetzes auftrittst, nach Anweisungen des Bre-hons deines Königs«, erwiderte Fidelma rasch. »Dafür verstehst du genug vom Gesetz.«
Mugrons Augen weiteten sich, als er sah, daß sie sich nicht einschüchtern ließ, und dann grinste er. »Na gut. Worüber willst du mit mir sprechen?«
»Eine Glaubensschwester wurde neben deinem Schiff aus dem Wasser gezogen. Sie war tot.«
»Einer meiner Männer hat mir den Vorfall gemeldet«, bestätigte Mugron. »Es passierte kurz vor dem Dunkelwerden. Zwei Fischer hatten die Leiche in ihrem Netz. Sie ruderten damit zum Ufer.«
»Ihr haltet anscheinend gut Wache auf diesem Schiff. Hat niemand von deiner Mannschaft etwas Verdächtiges bemerkt? Kein Anzeichen dafür, daß die Leiche von den Felsen an der Landspitze ins Meer geworfen wurde?«
»Wir haben nichts gesehen. Wir haben wenig mit dem Land zu tun, außer wenn wir mit Salbachs Erlaubnis von den Einheimischen frisches Fleisch und Gemüse einhandeln.«
»Und die Schwester war nie an Bord dieses Schiffes?«
Mugrons Gesicht wurde rot vor Ärger.
»Schwester Eisten war nicht hier an Bord«, fauchte er. »Wer das behauptet, ist ein Lügner!«
Seine Reaktion gab Fidelma eine Chance.
»Und woher weißt du, daß sie Eisten hieß? Ich habe es nicht erwähnt.« Ihre Stimme war messerscharf.
Mugron blinzelte.
»Du ...«
Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Treib kein Spiel mit mir, Mugron. Woher kennst du ihren Namen? Ich will die Wahrheit wissen.«
Mugron hob mit hilfloser Geste die Arme.
»Na schön, du sollst die ganze Wahrheit erfahren. Aber ich möchte mein Leben und mein Schiff nicht in Gefahr bringen. Behalten wir die Sache einstweilen unter uns.«
»Es gibt keine Gefahr, solange man die Wahrheit sagt«, versicherte ihm Fidelma.
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