»Der Stil ist eigenartig, eher der eines Testaments als der einer Genealogie«, wandte Fidelma ein.
Grella kniff die Augen zusammen.
»Verstehst du Ogham?« fragte sie scharf.
» Ja.«
»Nun, es ist kein Testament«, erwiderte Grella nicht gerade freundlich, »die Symbolik ist die eines Gedichts.«
»Anscheinend hatte Dacan die Stäbe mit auf sein Zimmer genommen, um sich ihren Text abzuschreiben, und als er sie zurückbrachte, vergaß er diesen hier, denn er war zu Boden gefallen. War das so üblich, daß er Bücher und Dichterstäbe mit auf sein Zimmer nahm?«
Grella schüttelte den Kopf.
»Nein, durchaus nicht. So arbeitete Dacan nicht. Er wollte nicht, daß irgend jemand erfuhr, wonach er suchte, deshalb nahm er gewöhnlich nichts aus der Tech Screptra mit. Normalerweise las er in diesem Zimmer hier, in dem wir sitzen. Es ist mein privater Arbeitsraum als Bibliothekarin. Aus diesem Zimmer wurde nichts fortgeschafft.«
»Aber jemand muß zumindest diesen einen Stab des >Liedes der Mugain< mit nach draußen genommen haben«, widersprach Fidelma. »Wie hätte er sich sonst in Dacans Zimmer befinden können?«
»Die Frage kann ich nicht beantworten.« »Und du meinst, daß er seine Notizen oder Aufzeichnungen niemals hier in der Bibliothek ließ?«
Schwester Grella saß ihr steif gegenüber.
»Ich kann dir versichern, daß ich nichts davon weiß.«
»Kanntest du den Kaufmann Assid?«
Der Themenwechsel kam so plötzlich, daß Schwester Grella um eine Wiederholung der Frage bat.
»Ich sah ihn beim Abendessen vor der Nacht, in der Dacan ermordet wurde«, antwortete Schwester Grella. »Was hat er damit zu tun?«
»Konntest du feststellen, ob Dacan Assid kannte?«
Von Grellas Gesicht ließ sich nichts ablesen.
»Assid stammt aus Laigin. Die meisten Leute in dem Königreich kannten Dacan oder hatten zumindest von ihm gehört.«
»Ich glaube, daß es Assid war, der die Nachricht vom Tode Dacans nach Fearna brachte«, fuhr Fidelma fort. »Die Kunde von seinem Tod gelangte äußerst schnell dorthin. Nur eine barc, die an der Küsten entlangsegelte, vermochte Fearna in so kurzer Zeit zu erreichen.«
»Dazu kann ich nichts sagen.«
»Hältst du es für möglich, daß Assid Dacans Aufzeichnungen mitgenommen hat?«
»Meinst du, daß Assid sie gestohlen hat?« fragte Grella. Es klang weder überrascht noch entrüstet.
»Das wäre eine mögliche Erklärung.«
»Ja, das wäre denkbar«, stimmte Schwester Grella zu. »Aber schließt du daraus, daß Assid Dacan ermordet hat?«
»Bis jetzt weiß ich das noch nicht.«
Fidelma stand auf.
Schwester Grella starrte sie an.
»Eine solche Erklärung würde es dem König in Cashel erlauben, sich aus seiner Verantwortung davonzustehlen.«
Fidelma blickte mit der Spur eines Lächelns auf sie hinunter.
»Wieso?«
»Nun, wenn Dacan von einem Mann aus Laigin ermordet wurde, dann würde Laigins Anspruch auf Osraige als Sühnepreis für Dacan gegenstandslos, nicht wahr?«
»Genau«, stimmte Fidelma ihr zu.
Sie verließ das Zimmer der Bibliothekarin und ging zurück durch die Stille der Tech Screptra, begleitet von seufzenden Atemzügen, dem Rascheln der Seiten und dem Kratzen der Federn.
Eine Gestalt fiel ihr auf zwischen all den Buchtaschen. Sie zog ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich dadurch auf sich, daß sie so offensichtlich unauffällig bleiben wollte. Hätte sie sich mit den Büchern beschäftigt, hätte Fidelma sie wahrscheinlich nicht bemerkt. Doch die Gestalt bemühte sich so sehr, wie ein ernsthafter Leser in der Bibliothek zu erscheinen, daß sie sofort einen zweiten Blick herausforderte. Nun, beschloß Fidelma, wenn diese Gestalt so offenkundig nicht von ihr beachtet werden wollte, dann würde sie auch nicht verraten, daß sie sie erkannt hatte.
Es war Schwester Necht.
Draußen, vor der düsteren, von Kerzen erhellten Tech Screptra war es kalt geworden, von Westen trieben Wolken heran und brachten Nieselregen mit.
Fidelma eilte dem Gästehaus zu.
Bruder Rumann hatte dafür gesorgt, daß in dem großen Kamin des Eingangsraumes ein Feuer brannte. Fidelma war froh über die Wärme, denn das Wetter war wirklich entmutigend. Sie wollte feststellen, ob Schwester Eisten oder die Kinder wieder aufgetaucht seien, und ging zu ihren Zimmern. Die Türen standen offen, doch die Zimmer waren leer.
Fidelma biß sich auf die Unterlippe. Die Zimmer der Kinder standen nicht nur leer, sie sahen aus, als seien sie nie bezogen worden.
Fidelma eilte durch den Gang zurück zu dem Zimmer, das Bruder Rumann als Büro diente.
Der füllige Mönch saß an seinem brandubh-Brett und tüftelte gerade an neuen Zügen.
Er blickte überrascht auf, als Fidelma nach flüchtigem Anklopfen eintrat.
»Ach, du bist es, Schwester.« Er lächelte und deutete auf das Brett. »Kommst du, um mich zu einem Spiel herauszufordern?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Im Augenblick nicht, Bruder Rumann. Mich interessiert mehr, wo die Kinder stecken.«
»Die Kinder?«
»Die Kinder aus Rae na Scrine.«
»Die wurden nach dem Mittagessen zu Bruder Mi-dach gebracht. Wolltest du sie noch einmal sehen, bevor sie abreisten?« fragte er verwundert.
»Abreisten? Wohin?«
»Bruder Midach untersuchte sie abschließend noch einmal, um sicherzugehen, daß sie keine Anzeichen der Gelben Pest aufwiesen, und dann sollte Schwester Aibnat sie zu dem Waisenhaus an der Küste bringen, das sie und Bruder Molua führen. Ich glaube, inzwischen sind sie fort.«
»Sind sie alle weg?«
»Wahrscheinlich ja, Schwester. Bruder Midach weiß das sicher.«
Fidelma machte sich eilig auf die Suche nach dem leitenden Arzt der Abtei.
Bruder Midach sah nicht so aus, wie man sich einen Arzt vorstellt. Offenbar besaß er Humor, denn sein rundes Gesicht war von unzähligen Lachfalten durchzogen. Das Haar ging ihm aus, und es war schwer zu entscheiden, wie weit die Tonsur reichte und was natürliche Kahlheit war. Seine Lippen waren dünn, seine braunen Augen blickten warm und freundlich, und auf seinen Wangen standen Bartstoppeln.
Fidelma hatte sein Zimmer, ohne anzuklopfen, betreten. Der Arzt war allein und anscheinend dabei, eine Kräutermixtur herzustellen. Er blickte stirnrunzelnd auf.
»Ich bin Fidelma von Kildare«, begann sie.
Bruder Midach musterte sie eingehend, bevor er antwortete, unterbrach aber seine Tätigkeit nicht.
»Mein Kollege, Bruder Tola, hat von dir gesprochen. Suchst du ihn?«
»Nein. Ich habe gehört, du hast heute nachmittag die Kinder aus Rae na Scrine untersucht. Stimmt das?«
»Das stimmt«, antwortete Bruder Midach. »Der Abt hielt es für das beste, sie direkt zu Bruder Molua weiterzuschicken, der an der Küste ein Haus für Waisenkinder hat. Schwester Aibnat hatte den Auftrag, sie dort hinzubringen. Ich sollte sie untersuchen, um festzustellen, ob sie gesund sind.«
Fidelma war die Enttäuschung anzusehen.
»Also sind sie alle fort?«
Midach nickte zerstreut und zerstieß weiter Blätter in seinem Mörser.
»Wir haben hier keine Einrichtungen für Kinder«, erklärte er. »Die beiden kleinen Mädchen waren gesund. Und je eher Tressach, der Junge, mit anderen Jungen zusammenkommt, desto glücklicher wird er sein. Ja, im Hause Moluas wird es ihnen besser gehen.«
»Du sagst gar nichts von den beiden Brüdern, Cetach und Cosrach?«
Midach hob den Blick vom Mörser.
»Welche beiden Brüder?« fragte er. »Da waren zwei Schwestern ...«
»Die schwarzhaarigen Jungen«, unterbrach Fidelma ihn ungeduldig.
»Ich weiß nichts von schwarzhaarigen Jungen. Ich habe zwei Mädchen untersucht und einen achtjährigen Jungen«, stellte Midach fest.
»Keinen vierzehnjährigen und keinen ungefähr zehnjährigen Jungen?«
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