»Warum das?«
Äbtissin Draigen schürzte zornig die Lippen.
»Weil er eitel ist, darum. Er liebt sein kleines bißchen Autorität.«
Fidelma blieb plötzlich stehen und musterte eingehend das Gesicht der Äbtissin.
»Adnar ist Häuptling in diesem Gebiet. Seine Festung liegt genau am anderen Ufer der Meerenge, und deshalb muß die Gemeinschaft Abgaben an ihn entrichten. Dennoch spüre ich eine große Feindseligkeit zwischen der Abtei und Adnar.«
Fidelma war bemüht, das Problem nicht mit der Person der Äbtissin gleichzusetzen.
Äbtissin Draigen errötete.
»Ich habe keinen Einfluß auf Eure Gedanken, Schwester, oder auf Eure Deutung der Dinge, die Ihr hier seht.« Sie wollte sich gerade abwenden, hielt jedoch inne. »Wenn Ihr vorhabt, heute mit Adnar das Morgenmahl einzunehmen, steht Euch ein langer Fußmarsch bevor, am Ufer entlang bis zu der Landzunge, auf der seine Festung steht. An unserem Kai ist jedoch ein kleines Boot festgemacht, das Ihr benutzen könnt, wenn Ihr wollt. Es dauert nur zehn Minuten, von dort über die Bucht zu rudern.«
Fidelma wollte ihr gerade danken, da war die Äbtissin schon verschwunden.
Äbtissin Draigen hatte recht: es war eine kurze, angenehme Überfahrt, vorbei an der Mündung des kleinen Flusses, der sich in die Meerenge ergoß - genau zwischen der Landzunge, auf der die Abtei errichtet worden war, und dem kahlen Felsvorsprung, auf dem die runde, aus Stein erbaute Festung Adnars stand. Wie hatte Ross sie genannt? Die Festung der Kuh-Göttin - Dun Boi. Fidelma konnte nicht umhin, die Weitsicht ihrer Erbauer zu bewundern, denn der Vorsprung, auf dem sie errichtet war, beherrschte nicht nur die offene Durchfahrt zum Meer, sondern die gesamte Meerenge mit ihrer Breite von mehreren Meilen. Die Wälder auf dem Felsvorsprung waren gerodet worden, so daß man einen ungehinderten Blick über die Bucht hatte, und nach den Holzgebäuden zu urteilen, die hinter den grauen Granitmauern sichtbar wurden, waren die gefällten Bäume beim Bau der Festung sinnvoll genutzt worden.
Als Fidelma über die seichte Bucht ruderte, hörte sie Rufe. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah eine dunkle Gestalt auf der Festungsmauer und eine zweite Gestalt, die davonrannte. Ihre Ankunft war offensichtlich bemerkt worden und wurde Adnar nun unverzüglich gemeldet.
Tatsächlich, als Fidelma mit ihrem kleinen Boot längsseits des hölzernen Piers unterhalb der Festung anlegte, stand dort Adnar höchstpersönlich mit einigen seiner Krieger, um sie willkommen zu heißen. Er verbeugte sich lächelnd und war die Höflichkeit selbst, während er ihr aus dem Boot half.
»Willkommen, Schwester. War die Überfahrt nicht anstrengend?«
Fidelma erwiderte sein Lächeln.
»Überhaupt nicht. Es ist nur eine kurze Entfernung«, fügte sie, auf das Offensichtliche verweisend, hinzu.
»Ich dachte, ich hätte heute morgen eine Totenglocke läuten hören?« Die Bemerkung war eher als Frage formuliert.
»In der Tat, das habt Ihr«, bestätigte Fidelma. »Es war die Totenmesse für den Leichnam, der gefunden wurde.«
Adnar wirkte verblüfft.
»Soll das heißen, daß Ihr die Identität der Toten festgestellt habt?«
Fidelma schüttelte den Kopf. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob im Tonfall des Häuptlings nicht eine Spur Besorgnis mitgeschwungen hatte.
»Die Äbtissin kam zu dem Schluß, daß die Tote ohne Namen beerdigt werden sollte. Hätte sie noch länger gezögert, wäre daraus eine Gefahr für die Gesundheit der Gemeinschaft entstanden.«
»Eine Gefahr?« Adnar schien eine Weile mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, doch dann begriff er, was sie meinte. »Ah, ich verstehe. Also seid Ihr in der Angelegenheit bisher noch zu keinen Schlußfolgerungen gelangt?«
»Nein.«
Adnar drehte sich um und wies mit der Hand den kurzen Pfad hinauf, der vom Pier zu einem kleinen Holztor in der grauen Festungsmauer führte.
»Laßt mich vorausgehen, Schwester. Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid - ich war mir gar nicht so sicher.«
Fidelma runzelte die Stirn.
»Ich sagte Euch doch, daß ich heute das Morgenmahl mit Euch einnehmen würde. Und was ich verspreche, das halte ich auch.«
Der großgewachsene, schwarzhaarige Häuptling breitete entschuldigend die Arme aus, als er beiseite trat, um sie als erste durch das Tor gehen zu lassen.
»Ich wollte Euch nicht beleidigen, Schwester. Es ist nur so, daß Äbtissin Draigen mich nicht gerade liebt.«
»Das kann ich seit gestern höchstpersönlich bezeugen«, erwiderte Fidelma.
Adnar schritt eine kurze Steintreppe hinauf zu einem großen Holzgebäude aus mächtigen Eichenbalken. Die Flügeltüren waren mit Schnitzereien reich verziert. Die beiden Krieger, die sie unauffällig begleitet hatten, bezogen jetzt am Fuß der Treppe Posten, während Adnar die Tür aufstieß.
Der Anblick, der sich Fidelma zur Begrüßung bot, verschlug ihr fast den Atem. Adnars Festsaal war gut geheizt, in einer großen Feuerstelle prasselte ein riesiges Feuer. Der ganze Raum war reich geschmückt und weitaus prunkvoller, als sie das bei einem einfachen bo-aire, einem Kuh-Häuptling ohne Landbesitz, erwartet hätte. Das Gebäude bestand überwiegend aus Eiche, doch die Wände waren mit Paneelen aus poliertem Eibenholz getäfelt. Überall hingen brünierte Schutzschilde aus Bronze und Silber zwischen kostbaren Wandteppichen aus aller Herren Länder. Es gab sogar mehrere Büchertaschen sowie ein Lesepult, um die Bücher zu lesen. Felle von Ottern, Hirschen und Bären lagen auf dem Boden verstreut. Ein runder Tisch war bereits für das Mahl gedeckt, überladen mit Früchten, Fleisch und Käse und mit Krügen voll Wasser und Wein.
»Ihr führt einen ausgezeichneten Haushalt, Adnar«, bemerkte Fidelma und starrte dabei auf den großzügig gedeckten Tisch.
»Das tut er nur, wenn er weiß, daß erlesene Gäste sich bei Tisch die Ehre geben, Schwester.«
Fidelma drehte sich beim Klang der angenehmen, dunklen Männerstimme jäh um.
Ein schmalgesichtiger junger Mann hatte den Raum betreten. Fidelma empfand augenblicklich eine Abneigung gegen ihn. Er war frisch rasiert, doch die nachwachsenden Bartstoppeln lagen wie ein blauer Schatten auf seinen hageren Wangen. Sein ganzer Körper war mager, die Nase spitz, der Mund rot und schmal wie ein Schlitz. Seine Augen, zwei große, schwarze Kugeln, standen nie länger als ein paar Sekunden still, sondern zuckten ständig hin und her und verliehen ihm einen hinterhältigen Gesichtsausdruck. Über seinem safrangelben Hemd trug er ein ärmelloses Wams aus Schaffell mit einem Gürtel um die Taille. Eine Kette aus Rotgold zierte seinen Hals. Fidelma entging nicht, daß er an der Seite einen juwelenbesetzten Dolch in einer ledernen Scheide trug. Nur jemand von hohem Rang durfte einen Dolch in einen Festsaal mitbringen, wo normalerweise keine größeren Waffen zugelassen waren.
Der junge Mann war noch nicht lange über das Alter der Reife hinaus. Fidelma schätzte ihn auf achtzehn, im Höchstfall vielleicht neunzehn Jahre.
Adnar trat einen Schritt vor.
»Schwester Fidelma, gestattet mir, Euch Olcan vorzustellen, den Sohn von Gulban, dem Falkenauge, dem Prinzen und Oberhaupt der Beara, auf deren Gebiet Ihr Euch hier befindet.«
Die Hand, die der junge Mann ihr reichte, war feucht und schlaff. Fidelma spürte, wie ein leichtes Schaudern ihren Körper durchlief, als sich ihre Hände zur Begrüßung berührten. Ihr war, als berührte sie einen Leichnam.
Fidelma wußte, daß es falsch war, lediglich aufgrund seines Äußeren Abneigung gegen Olcan zu empfinden. Wie lautete noch gleich der Vers von Ju-venal? Fronti nulla fides. Auf die Erscheinung kann man sich nicht verlassen. Von allen Menschen sollte doch gerade sie sich vor übereilten Beurteilungen hüten, die nur auf bloßem Augenschein beruhten.
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