Olcan schob seine Hand vertraulich unter Fidelmas Ellbogen und geleitete sie aus dem Festsaal. Bruder Febal schien es zufrieden, ohne Abschiedsgruß wieder Platz zu nehmen und seine Mahlzeit fortzusetzen, während Adnar ihnen hinterhereilte.
»Es war uns ein Vergnügen, Euch kennenzulernen, Fidelma«, sagte Olcan, als sie die Außentreppe erreichten und für einen Augenblick stehenblieben. »Allerdings ist es sehr bedauerlich, daß diese Begegnung von einem so schrecklichen Ereignis herbeigeführt wurde.« Die Meerenge lag im fahlen Sonnenlicht. Ol-can blickte hinüber zu der Stelle, wo das gallische Handelsschiff ankerte, das einzige in der Bucht.
»Ist dies das Schiff, mit dem Ihr von Ros Ailithir gekommen seid?« fragte er und betrachtete seinen fremdartigen Umriß mit plötzlich erwachtem Interesse.
Fidelma schilderte ihm den rätselhaften Vorfall in groben Zügen.
Dann wurden sie von Adnar unterbrochen.
»Heute nachmittag schicke ich meine Männer zu dem gallischen Schiff hinüber«, erklärte er entschlossen.
Fidelma wandte sich erstaunt zu ihm um.
»Wozu?«
Adnar setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf.
»Sicher seid Ihr vertraut mit den Bergegesetzen?«
Auf seinen Tonfall reagierte Fidelma sofort ungehalten.
»Falls Ihr sarkastisch werden wollt, Adnar, würde ich Euch davon abraten. Im Streit ist Sarkasmus der Logik stets unterlegen«, erwiderte sie kalt. »Ich kenne die Bergegesetze und frage Euch noch einmal, auf welcher Grundlage Ihr vorhabt, Eure Männer hinüberzuschicken und Anspruch auf das gallische Schiff zu erheben?«
Olcan lächelte ironisch über Adnars Verlegenheit, die ihm das Blut ins Gesicht trieb.
Grollend preßte Adnar die Lippen zusammen.
»Ich stütze mich auf die Texte des Mur-Bretha, Schwester. In diesen Fragen kenne ich mich aus, schließlich bin ich hier der Friedensrichter. Sämtliches Bergegut, das an den Stranden dieser Küste anlandet, gehört mir ...«.
Olcan wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Fidelma.
»Wo er recht hat, hat er recht, nicht wahr, Schwester? Aber nur, wenn der Wert des Bergegutes auf höchstens fünf séts oder Kühe geschätzt wird. Ist der Wert höher, wird der Überschuß geteilt: ein Drittel für den bo-aire, ein Drittel für den Herrscher über dieses Gebiet, meinen Vater, und ein Drittel für die Oberhäupter der größten Stämme in der Gegend.«
Fidelma musterte den triumphierenden Gesichtsausdruck Adnars und wandte sich mit nachdenklicher Miene wieder Olcan zu.
»Bei Eurer Auslegung des Seefahrtsrechtes vergaßt Ihr hinzuzufügen, daß Euer Vater ebenfalls ein Viertel seines Anteils an den König dieser Provinz, meinen Bruder, abzugeben hätte, und der König der Provinz wiederum müßte ein Viertel des Anteils an den Oberkönig weiterleiten. So jedenfalls schreibt es das Bergegesetz vor.«
Olcan lachte laut und zeigte damit seine Anerkennung für Fidelmas genaue Kenntnis der gesetzlichen Bestimmungen.
»Bei meiner Seele, Ihr haltet, was Euer Ruf verspricht, Schwester Fidelma.«
Um bei der Wahrheit zu bleiben, Fidelma hatte die Texte des Mur-Bretha erst vor kurzem gelesen, als sie den Fall in Ros Ailithir untersuchte. Damals hatte sie festgestellt, daß ihr Wissen über die Gesetze, die die Seefahrt betrafen, erbärmliche Lücken aufwies. Nur dank ihrer kürzlichen Lektüre konnte sie jetzt so sicher auftreten.
»Dann wird Euch auch bekannt sein«, fügte Adnar mit einer Dreistigkeit, die fast schon an Gerissenheit grenzte, hinzu, »daß ich als bo-aire eine Geldstrafe gegen Ross verhängen muß, weil er mich und die Häuptlinge dieses Bezirks nicht unverzüglich unterrichtet hat, als er das Schiff als Bergegut in unseren Hafen brachte. Auch das steht in dem Gesetz.«
Fidelma musterte Adnars grinsendes Gesicht, blieb jedoch ernst. Sie schüttelte langsam den Kopf und beobachtete dabei, wie sich seine Miene veränderte und er immer fassungsloser dreinblickte.
»Ihr müßt Eure Gesetze über frith-fairrgi oder >Funde auf See< genauer studieren.«
»Warum das?« fragte Adnar mit einer Stimme, die angesichts ihrer ruhigen Zuversicht nicht mehr ganz so selbstsicher klang.
»Weil Ihr, wenn Ihr den Text sorgfältig gelesen hättet, wüßtet, daß jeder, wenn er einen wertvollen Gegenstand, der auf See trieb, mitbringt - und das gilt für ein Schiff ebenso wie für einfaches Treibgut und über Bord geworfenes Gut -, und wenn dieser Gegenstand mehr als neun Wellen von der Küste entfernt geborgen wurde, ein Anrecht darauf hat, das ihm niemand, nicht einmal der Oberkönig, streitig machen kann. Deshalb gehört dieses Schiff Ross und keinem anderen. Nur wenn die Bergung innerhalb einer Entfernung von neun Wellen vor der Küste stattgefunden hätte, könntet Ihr einen Anspruch anmelden.«
Die Länge von neun Wellen entsprach der Länge eines Maßes, das man forrach nannte, und ein forrach wiederum entsprach einer Länge von etwa fünfzig Metern. Folglich hatte Ross’ Begegnung mit dem gallischen Schiff weit außerhalb der Küstengewässer auf hoher See stattgefunden.
Die Entfernung von neun Wellen hatte eine symbolische Bedeutung, die bis in die heidnische Zeit zurückreichte. Noch heute wurde das magische Symbol der neun Wellen selbst von zahlreichen Anhängern des christlichen Glaubens fraglos anerkannt. Vor zwei Jahren, als die furchteinflößende Gelbe Pest in den fünf Königreichen wütete, war Colman, der bedeutendste Gelehrte der Universität des Heiligen Finbarr in Cork, mit seinen Studenten auf eine Insel geflohen, um neun Wellen Abstand zum irischen Festland zu gewinnen. Er hatte behauptet, »die Pest reist nicht weiter als neun Wellen«.
Adnar starrte Fidelma entgeistert an.
»Treibt Ihr Scherze mit mir?« stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Olcan sah, wie sich Fidelmas Augenbrauen zusammenzogen. »Natürlich nicht, Adnar«, sagte er lachend. »Kein Beamter der Gerichtsbarkeit treibt jemals Scherze mit dem Gesetz. Ihr, mein verehrter bo-aire , seid einfach falsch informiert.«
Adnar drehte sich empört zu dem jungen Prinzen um.
»Aber ...«, wollte er gerade protestieren, wurde jedoch durch einen kurzen, wütenden Blick von Olcan zum Schweigen gebracht.
»Genug! Ich bin der Sache ebenso überdrüssig wie vermutlich Schwester Fidelma.« Er lächelte sie freundlich an. »Wir müssen sie jetzt zur Abtei zurückkehren lassen. Werdet Ihr den Rat von Adnar und Bruder Febal beherzigen? Ja, das werdet Ihr«, fuhr er fort, bevor sie antworten konnte. »Wie auch immer, wenn Ihr während Eures Aufenthaltes im Land der Beara irgendeinen Wunsch habt, braucht Ihr ihn nur zu äußern. Ich spreche damit nicht nur in meinem Namen, sondern auch in dem meines Vaters Gulban.«
»Das ist gut zu wissen, Olcan«, erwiderte Fidelma ernst. »Und jetzt werde ich meine Aufmerksamkeit drängenderen Problemen zuwenden. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Adnar . und für Euern Rat.«
Sie war sich bewußt, daß die beiden ihr von den Festungsmauern aus mit den Blicken folgten, als sie zum Pier hinunterschritt, wo ihr ein wortkarger Krieger ins Boot half. Sie sah, wie sie sie immer noch beobachteten, während sie sich in die Riemen legte und das kleine Boot mit rhythmischen Schlägen über die Bucht zur Abtei zurückruderte. Fidelma fühlte sich unbehaglich. Ihr Besuch in Adnars Festung bereitete ihr Kopfzerbrechen.
Adnar und Olcan waren durchaus angenehme Gesellschafter. Sie konnte ihre spontane Abneigung gegen die beiden nicht ganz begreifen. Olcans Äußeres fand sie zwar eher abstoßend, doch war er keineswegs unfreundlich. Adnar hatte versucht, sie hinsichtlich der Bergung des gallischen Schiffes auszustechen, aber sie sollte ihm das nicht zum Vorwurf machen. Was ihr die größte Sorge bereitete, war ihre fast irrationale Aversion gegen die beiden. Da war etwas, was ihr tiefstes Mißtrauen weckte und wogegen sie sich augenblicklich sträubte. Vielleicht nahm sie ihnen übel, daß sie sich zusammentaten und Gerüchte über Draigen verbreiteten. Sie würde bald herausfinden, ob die Geschichten über die Äbtissin der Wahrheit entsprachen. Und falls dem so war, bedeutete das dann nicht zwangsläufig eine Mitschuld der Schwestern in der Abtei? Denn falls Draigen Schuld auf sich geladen hatte, war es unmöglich, daß die gesamte Gemeinschaft nichts davon wußte.
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