»Man traut einem Menschen alles mögliche zu, wenn man eine Abneigung gegen ihn gefaßt hat.«
»Tust du das auch?«
»Fidelma, ich bin Druide und Brehon. Erst war ich geneigt, dich so gering zu schätzen wie die meisten deines Glaubens: Kleinliche, bigotte Leute, anderen Überzeugungen gegenüber intolerant. Sie können niemanden leiden, der nicht genauso denkt wie sie. Dann stellte ich fest, daß du anders bist als jene deines Glaubens, die ich bis dahin kannte. Dir vertraue ich. Ich glaube, daß du von jeder Schuld frei bist. Vielleicht traust du mir, so daß ich dir helfen kann?«
Einen verwegenen Augenblick lang war Fidelma versucht, ihm alles zu sagen, was sie wußte. Sie öffnete schon den Mund, da erkannte sie die Gefahr. Sie klappte den Mund wieder zu. Murgal war plötzlich zu freundlich geworden. Was steckte hinter seiner veränderten Haltung?
In diesem Moment merkte sie, daß Laisre den Raum betreten hatte. Er trug einen Mantel, denn der Abend war kühl. Er ging hinüber zum Kamin, wo man vor einem geschnitzten hölzernen Wandschirm seinen Sessel aufgestellt hatte. Der Wandschirm war schulterhoch, um vor Zugluft zu schützen. Laisre ging hinter den Schirm zu einem kleinen Tisch, auf dem man während des Festes Mäntel und Waffen ablegte.
Fidelma folgte ihm mit nachdenklichen Blicken. Als er den Mantel abnahm, schaute er sie über den Wandschirm hinweg direkt an. Den unteren Teil seines Gesichts konnte sie nicht sehen, nur seine Augen und den oberen Teil des Gesichts, so daß sie seine Miene nicht erkennen konnte. Ihre Blicke begegneten sich, und sie spürte die Feindseligkeit in seinen Augen. Ein kalter Schauder überlief sie, dann wurde sie wieder ganz ruhig. Sie wandte sich erneut Murgal zu.
»Entschuldige«, sagte sie, »was meintest du eben?«
»Ich sagte, du solltest mir vertrauen, Fidelma von Cashel, denn ich könnte dir vielleicht helfen. Morgen mußt du deinen Verdacht begründen. Wenn du nach Cashel zurückreitest, ohne eine Erklärung für die Vorgänge hier abzugeben, wirst du großes Mißtrauen hinterlassen. Man wird dir weiter die Schuld an Solins Tod zuschreiben.«
Fidelma musterte Murgal einen Moment nachdenklich.
»Du und das Volk von Gleann Geis, ihr werdet morgen vormittag die Lösung all der Rätsel hier erfahren. Das schwöre ich.«
Sie sah, daß Eadulf in die Halle kam. Ihr fiel auf, daß sein Gesicht gerötet war und er irgendwie aufgewühlt wirkte.
Sie entschuldigte sich bei Murgal, erhob sich und ging hinüber zu ihm.
»Stimmt etwas nicht, Eadulf?« fragte sie neugierig. »Du machst so ein seltsames Gesicht.«
»Ob etwas nicht stimmt?« fragte er entrüstet. Er hatte anscheinend Mühe, seinen Zorn zu bändigen. »Bei dieser Esnad stimmt was nicht. Selbst die Prostituierte Nemon ist ehrlicher als sie.«
Fidelma legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Gehen wir ins Gästehaus, und du erzählst mir alles.«
»Weißt du, daß diese Göre versucht hat, mich in ihr Bett zu zerren?«
Fidelma warf ihm einen belustigten Blick zu.
»Sie ist jung und attraktiv«, meinte sie.
Eadulf gab einen unartikulierten Laut von sich.
»Ich nehme an, du warst von dem Angebot nicht begeistert?« fügte Fidelma mit einem mutwilligen Lächeln hinzu.
»Sie forderte mich auf, eine Partie Brandub mit ihr zu spielen, und bestand auf einer Wette. Wenn sie gewann, sollte ich mit ihr ins Bett gehen, und wenn ich gewann, erwartete sie, daß ich dasselbe von ihr verlangen würde.«
»Und hast du?«
Eadulf war entgeistert.
»Ob ich mit ihr ins Bett gegangen bin?« fragte er entsetzt.
»Nein, hast du die Partie gewonnen?«
Eadulf schüttelte heftig den Kopf.
»Ich sah, worauf das hinauslief, und konnte das Spiel gewinnen, aber ihre Erwartungen habe ich nicht erfüllt. Das hielt sie freilich nicht davon ab, den Versuch zu machen, mich trotzdem dazu überreden zu wollen. Ich bin ihren Fängen mit Mühe und Not entschlüpft.«
»Was wichtiger ist«, sagte Fidelma, als sie das Gästehaus betraten, »hast du herausgefunden, ob sie an der Politik ihrer Eltern beteiligt ist? In welchem Verhältnis steht sie zu Rudgal?«
»Sie kümmert sich um nichts weiter als fleischliche Lust.« Eadulf schnaubte angewidert. »Sonst kennt sie kaum etwas. Was Rudgal anbelangt, ich glaube, er ist dieser kleinen Schlampe blind verfallen. Mir tut der Mann leid.«
Fidelma entzündete die Lampe.
»Nun, wir sollten uns früh schlafen legen. Im Moment haben wir alles getan. Hoffen wir, daß Ibor vor dem Morgengrauen hier ist.«
Eadulfs Miene wurde besorgt.
»Wir spielen ein gefährliches Spiel, Fidelma. Diesen rath einzunehmen ist eine Sache, aber wir müssen auch in der Lage sein, das Rätsel zu lösen.«
Fidelma schien recht zufrieden.
»Ich denke, das kann ich - jetzt«, fügte sie mit Betonung hinzu. »Aber die Hauptgefahr droht heute nacht. Wenn jemand etwas gegen mich unternehmen will, dann in dieser Nacht. Wir müssen wachsam sein.«
Eadulf war beunruhigt.
»Ich werde wach bleiben«, versprach er. »Hab keine Angst.«
Es war noch dunkel, als Eadulf aus dem Schlummer geweckt wurde, in den er fast im selben Augenblick gefallen war, als er sich zwischen den Decken ausgestreckt hatte.
Mit klopfendem Herzen setzte er sich im Bett auf und bemerkte eine Gestalt, die sich über ihn beugte.
Im Dunkeln erkannte er Fidelma an ihrem Parfüm. Sie flüsterte ihm zu: »Jemand ist unten im Gästehaus. Ich hörte, wie er die Tür öffnete. Halte dich bereit, ich glaube, er kommt die Treppe herauf.«
Während Fidelma in ihr Zimmer zurückschlich, schwang sich Eadulf aus dem Bett und zog eilig seine Kutte über.
Er hörte, wie jemand leise die Treppe heraufstieg und durch eine knarrende Stufe verraten wurde.
Er stellte sich hinter die Tür und nahm einen der schweren eisernen Kerzenständer in die Hand. Sobald der Eindringling an seiner Tür vorbei war und Fidel-mas Zimmer zustrebte, wollte er hinaus und ihn von hinten angreifen. Kaum hatte er sich zu dieser Taktik entschlossen, als er hörte, wie die Schritte draußen auf dem Korridor stockten, und dann - dann bewegte sich die Klinke seiner eigenen Tür.
Mit klopfendem Herzen drückte er sich an die Wand und hob instinktiv den Kerzenständer zu seiner Verteidigung.
Knarrend ging die Tür auf.
Ein Schatten trat ein. Es war der Schatten eines kräftigen Mannes. In der Hand hielt er ein Schwert.
Eadulf wartete nicht länger. Er schlug mit dem Kerzenständer zu und traf den Kopf des Mannes. Der Mann grunzte leise, brach zusammen und fiel zu Boden. Das Schwert flog ihm scheppernd aus der Hand.
Einen Moment blieb Eadulf zitternd stehen.
Er hörte einen erregten Ausruf Fidelmas, dann eilte sie herbei.
»Wo bist du, Eadulf?« fragte sie angstvoll.
»Hier«, murmelte er, steckte eine Kerze auf den Ständer und suchte nach Feuerstein und Zunder. Das war schwierig in der Dunkelheit und brauchte seine Zeit. Erst mußte er die Metallschachtel mit dem vermoderten Buchenholz finden, das von Pilzen fast zu Pulver zerfressen war, den Feuerstein darüber halten und mit einem scharfen Stück Metall darauf schlagen, um Funken zu erzeugen. Hatten die Funken das Holz zum Glimmen gebracht, konnte er den Docht der Kerze damit entzünden. Als sie endlich brannte, konnten sie erkennen, wer da am Boden lag.
»Rudgal!« flüsterte Fidelma.
»Ich habe ihm tüchtig eins übergezogen«, gestand Eadulf. »Sein Schädel blutet. Ich werde ihn gleich verbinden.«
»Aber zuvor fesselst du ihm die Hände«, mahnte Fidelma. »Er ist nicht aus Freundschaft mitten in der Nacht mit dem Schwert in der Hand hier eingedrungen.«
Eadulf machte sich auf die Suche nach einer festen Schnur, fand sie in der Küche des Gästehauses, kehrte zurück und band damit dem Krieger die Hände zusammen. Dabei kam Rudgal stöhnend zu sich. Eadulf hob ihn aufs Bett, holte eine Schüssel mit Wasser und wusch die blutige Stelle an seinem Kopf. Rudgal öffnete die Augen, blickte um sich und bewegte die Arme.
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