»Aber die Antwort darauf wirst du nicht in Gleann Geis finden«, erwiderte Orla mürrisch.
»Doch nach Gleann Geis müssen wir jetzt«, erklärte Fidelma mit Bestimmtheit. »Je eher wir dorthin kommen, desto besser. Also werden mein Gefährte und ich dich hier verlassen, während du auf die Rückkehr deiner Männer wartest, und weiterreiten.« Sie sah Eadulf an und gab ihm ein knappes Zeichen, ihr zu folgen, dann trieb sie ohne ein weiteres Wort ihr Pferd an und ritt an Orla und den restlichen Kriegern vorbei. Eadulf schloß sich ihr fast ohne Zögern an. Die Krieger starrten verblüfft Orla an, die aber nichts tat, um die beiden zu hindern.
Zuversichtlich ritt Fidelma im Schritt in die Schlucht hinein, in der der Boden steinig wurde. Er wurde vom Bett eines Flusses gebildet, der vor langer Zeit ausgetrocknet sein mußte, vielleicht vor Jahrhunderten. Die Schlucht wand sich hin und her zwischen steilen, über dreißig Meter hohen Granitwänden, die beinahe alles Licht nahmen. Sie gerieten sogleich in ein Halbdunkel. An ihrem Anfang war die Schlucht etwa zehn Meter breit, dann verengte sie sich so, daß zwei Pferde gerade noch nebeneinander Platz fanden.
Erst nachdem sie ein ganzes Stück zurückgelegt hatten, brach Eadulf das Schweigen.
»Meinst du .?« setzte er an, hielt aber sofort inne, als das Echo seiner Stimme von den Wänden der engen Schlucht zurückschallte. Dann sprach er leise weiter, doch selbst dieses Flüstern hörte sich noch wie ein Grabesecho an. »Meinst du, daß diese Orla und ihre Krieger die jungen Männer getötet haben?«
Fidelma zuckte die Achseln, antwortete jedoch nicht. Ihre Miene blieb starr und ernst.
»Die Überraschung in Orlas Gesicht wirkte echt«, fuhr Eadulf hartnäckig fort.
»Trotzdem, wäre ich nicht die, die ich bin, hätten wir unsere Reise wohl kaum fortgesetzt. Orla und ihre Krieger haben für Leute unseres Glaubens wenig übrig.«
Eadulf erschauerte, hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, und ließ sie wieder sinken. Eine Handlung aus Gewohnheit verlor ihre Bedeutung.
»Ich wußte nicht, daß in diesem Land noch solche heidnischen Gebiete existieren. Hier gibt es viel Anlaß zur Furcht.«
»Furcht ist selbstzerstörerisch, Eadulf. Und du solltest nicht jemanden fürchten, nur weil er deinen Glauben nicht teilt«, tadelte ihn Fidelma.
»Wenn sie bereit sind, das Schwert gegen die zu gebrauchen, deren Glaube nicht der ihrige ist, dann sind sie doch zu fürchten«, entgegnete Eadulf beinahe heftig. »Wir haben da hinten im Tal zweifellos ein bizarres rituelles Opfer gesehen, das diese Heiden dargebracht haben. Ich fürchte für unsere Sicherheit.«
»Furcht ist nicht nötig, Vorsicht allerdings schon. Weißt du noch, was Äschylos sagte? Übermäßige Furcht macht die Menschen unfähig zu handeln. Also befreie dich von aller Furcht und sei wachsam und vorsichtig, auf diese Weise werden wir die Wahrheit entdecken.«
Eadulf schnaufte abfällig.
»Vielleicht bietet die Furcht auch Schutz«, wandte er ein, »denn die Furcht macht uns vorsichtig.«
»Die Furcht bewirkt niemals etwas Vernünftiges. Ich zitiere dir einen Ausspruch von Publilius Syrus: Was wir befürchten, tritt viel schneller ein, als was wir erhoffen. Wenn du dich hier fürchtest, erzeugt deine Furcht das Unnennbare, was du fürchtest. Du hast nichts zu fürchten als die Furcht selbst. Hier gibt es nichts zu fürchten als die bösen Taten von Männern und Frauen, und wir haben uns früher schon bösen Männern und Frauen entgegengestellt und sind siegreich geblieben. So wollen wir es auch jetzt halten.«
Sie brach ab und neigte den Kopf zur Seite.
Sie vernahmen das Geräusch eines Pferdes, das sich hinter ihnen schnell durch die Schlucht bewegte.
»Sie kommen uns nach«, zischte Eadulf und drehte sich im Sattel um. Doch die Schlucht wand sich so stark hin und her, daß man einen Reiter erst sehen konnte, wenn er dicht heran war.
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Sie? Da siehst du, wie Furcht das Urteilsvermögen trübt. Es ist nur ein Pferd, das uns nachkommt, und das gehört zweifellos Orla.«
Eadulf hatte gerade den Mund zur Antwort geöffnet, als die Dunkelhaarige plötzlich um eine Felsecke bog, sie erblickte und ihr Pferd parierte.
»Ich konnte euch nicht ohne ein schickliches Geleit nach Gleann Geis reiten lassen. Ich habe es meinen Männern überlassen, dieses ...« Sie zögerte und machte eine Handbewegung, die den schrecklichen Kreis der Leichen hinter ihnen beschreiben sollte. »Artgal wird über alles berichten, was er findet und was zur Aufklärung dieses Massakers beitragen kann. Ich begleite euch zum rath meines Bruders.«
Fidelma neigte dankend den Kopf.
»Wir wissen deine Höflichkeit zu schätzen, Orla.«
Die Dunkelhaarige lenkte ihr Pferd an die Spitze, und sie ritten im Schritt weiter.
Fidelma begann eine Unterhaltung.
»Habe ich richtig verstanden, daß du nicht der Meinung deines Bruders Laisre bist, daß der Glaube in diesem Land anerkannt werden sollte?«
Orla lächelte säuerlich.
»Mein Bruder hat sich damit abgefunden, daß das Wort eures Glaubens in den fünf Königreichen stark geworden ist. Es gibt kaum noch ein Kleinkönigreich oder einen Fürsten, der die Botschaft dieses fremden Gottes in Zweifel zieht. Laisre ist unser Fürst, aber wir sind vielleicht nicht alle mit seiner Haltung einverstanden.«
Eadulf wollte etwas sagen, ging aber zu einem Hüsteln über, als er Fidelmas warnenden Blick auffing.
»Ach ja? Ihr meint also, Christus sei ein fremder Gott und nicht der eine Gott der ganzen Welt?« erkundigte sich Fidelma verwundert.
»Wir haben seit dem Anfang aller Zeiten unsere eigenen Götter gehabt, die uns geholfen haben. Warum sollen wir sie jetzt aufgeben, zumal für einen Gott, der in dieses Land kam auf den Zungen der Römer und römischer Sklaven, die uns im Krieg nie besiegen konnten, aber uns jetzt mit ihrem Gott erobern?«
»Das ist eine eigenwillige Art, die Dinge zu betrachten«, meinte Fidelma. »Doch ihr vergeßt, daß unsere Leute zwar einen Gott aus dem Osten als den universalen Gott angenommen haben, daß wir ihn aber auf unsere Art verehren, nicht in der Art, die uns Rom vorschreibt.«
Orla verzog spöttisch den Mund.
»Das ist nicht das, was ich höre. Es gibt zwar welche eures Glaubens, die, wie du richtig sagst, die Befehle aus Rom nicht befolgen, aber viele andere tun es doch. Wie Ultan von Armagh zum Beispiel, der behauptet, er besitze die geistliche Oberhoheit in allen fünf Königreichen. Er schickt seine Vertreter in alle Ecken des Landes und fordert Gehorsam.«
Fidelmas Stirnrunzeln verschwand so schnell, daß es kaum bemerkt wurde.
»Sind solche Abgesandten Ultans auch zu euch gekommen?«
»Ja«, gestand Orla freimütig. »Von Ultan, der sich Comarb, Nachfolger Patricks nennt, der damals den Glauben an Christus in dieses Land brachte. Ultan behauptet auch, daß alle Abgaben des neuen Glaubens ihm zustehen.«
Fidelma fühlte sich gedrängt, darauf hinzuweisen, daß die Chronisten von Imleach Patricks Anspruch, er habe als erster den Glauben nach Eireann und insbesondere nach Muman gebracht, bezweifelten. War Muman nicht von dem heiligen Ailbe, dem Sohn von Olcnais, bekehrt worden, der im Hause eines Königs diente? Hatte Ailbe nicht Patrick unterstützt und ermutigt? Hatten nicht Patrick und Ailbe gemeinsam Oengus Mac Nad Froich, den König von Cashel, zum Glauben bekehrt? Und Patrick hatte zugestimmt, daß die Königsstadt Cashel der Sitz von Ailbes Kirche in
Muman werden sollte. All das lag ihr auf der Zunge, doch sie schwieg. Man konnte viel erfahren, indem man nichts sagte.
»Ich habe nichts für euren Glauben übrig und auch nicht für die, die ihn vertreten«, erklärte Orla offen. »Euer Patrick hat die Menschen durch Furcht bekehrt.«
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