Zwei Knaben liefen herbei, als Orla vom Pferd glitt.
»Die Stallburschen kümmern sich um eure Pferde«, erklärte Orla, als Fidelma und Eadulf ihrem Beispiel folgten und abstiegen. Die Jungen nahmen ihnen die Zügel ab, während sie ihre Satteltaschen abschnallten.
»Ich nehme an, ihr wollt euch nach eurer anstrengenden Reise erfrischen, bevor ihr euch mit meinem Bruder und den anderen trefft?« fuhr die Frau des Ta-nist fort. »Ich zeige euch unser Gästehaus. Wenn ihr gebadet und gegessen habt, wird euch mein Bruder Laisre sicherlich in der Ratshalle begrüßen wollen.«
Fidelma gab zu verstehen, daß ihnen dies sehr recht sei. Ein oder zwei Leute, die den Hof überquerten, grüßten Orla und betrachteten Fidelma und Eadulf mit unverhohlenem Interesse. Orla machte sich nicht die Mühe, sie vorzustellen. Ein junges Mädchen kam angerannt.
»Warum kommst du so früh zurück, Mutter?« wollte sie wissen. »Wer sind diese Fremden?«
Fidelma war die Ähnlichkeit zwischen Orla und dem Mädchen sofort aufgefallen. Das Mädchen war kaum über vierzehn. Der Stil ihrer Kleidung und des Schmucks verriet, daß sie über das Alter der Wahl hinaus war und somit als Erwachsene galt. Sie hatte das dunkle, volle, lockige Haar ihrer Mutter und ihre funkelnden Augen. Sie war hübsch und sich ihrer Reize voll bewußt, denn sie zeigte eine kokette, selbstbewußte Haltung.
Orla begrüßte ihre Tochter mit zerstreuter Zurückhaltung.
»Wer sind diese Christen, Mutter?« beharrte das Mädchen, das sie anscheinend an ihrer Kleidung erkannt hatte. »Sind sie Gefangene?«
Orla runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Sie sind Gesandte aus Cashel, Esnad, Gäste deines Onkels. Nun mach dich fort, du kannst sie später begrüßen.«
Esnad betrachtete Eadulf mit einem offen prüfenden Blick.
»Der da ist zwar ein Fremder, aber dafür ist er ganz ansehnlich«, verkündete sie mit koketter Miene.
Fidelma versuchte ihre Belustigung zu verbergen, während Eadulf heftig errötete.
»Esnad!« fauchte ihre Mutter verärgert. »Jetzt aber fort mit dir!«
Das Mädchen wandte sich um, lächelte Eadulf über die Schulter zu und ging, sich aufreizend in den Hüften wiegend, langsam über den Hof davon. Orla seufzte erbittert auf.
»Deine Tochter ist im Alter der Wahl?« fragte Fidelma.
Orla nickte.
»Es ist schwer, einen Mann für sie zu finden. Ich fürchte, sie hat da ihre eigenen Vorstellungen. Sie kann einem schon auf den Geist gehen.«
Orla führte sie zu einem großen zweistöckigen Gebäude, das an eine der Außenmauern des rath stieß. Sie öffnete die Tür und trat beiseite.
»Ich schicke euch die Verwalterin des Gästehauses, und wenn ihr euch erfrischt habt, wird sie euch zu Laisres Ratshalle bringen.«
Sie verneigte sich knapp vor Fidelma und überließ die beiden sich selbst.
In der Sicherheit des Hauptraums des Gästehauses, in dem offensichtlich die Speisen der Gäste zubereitet und von ihnen eingenommen wurden, warf Fidelma ihre Satteltaschen auf den Tisch, sank auf den nächsten Stuhl und stieß einen tiefen Seufzer der Erschöpfung aus.
»Ich habe zuviel Zeit im Sattel verbracht, Eadulf«, meinte sie. »Ich habe vergessen, wie man sich auf einem Stuhl ausruht.«
Eadulf sah sich in ihrer Unterkunft um. Es war ein freundlich geschmückter Raum, in dem bereits ein Feuer brannte, über dem ein Kochkessel dampfte und angenehme Gerüche verbreitete.
»Wenigstens werden Laisres Gäste anscheinend gut versorgt«, murmelte er. Der Raum erstreckte sich über die ganze Länge des Gebäudes, und an jeder Seite standen ein langer Tisch und ein paar bequeme Holzstühle. Das war offensichtlich der Speisebereich. Am hinteren Ende, nahe dem Feuer, hingen alle Utensilien fürs Kochen. Vier Türen führten zu anderen Räumen in diesem unteren Stockwerk. Eadulf legte seine Satteltaschen ab, ging zu jeder Tür und warf einen kurzen Blick in den Raum dahinter.
»Zwei Badezimmer«, verkündete er. Er öffnete die anderen Türen, knurrte angewidert und bekreuzigte sich. »Diese hier sind fialtech.« Das irische Wort ging ihm glatt von der Zunge, denn »Schleierhaus« war ein volkstümlicher Ausdruck für einen Abort und von der römischen Auffassung abgeleitet. Viele Mönche und Nonnen glaubten, der Teufel wohne darin, und es war üblich geworden, sich zu bekreuzigen, bevor man hineinging.
Eine Holztreppe führte ins obere Stockwerk. Hier gab es vier kleine Zimmer wie Zellen, stellte Eadulf fest. Er schaute nacheinander in jede hinein und sah, daß die hölzernen Bettgestelle schon mit Strohmatratzen, Wolldecken und Leinentüchern belegt waren. Gleich darauf kam er wieder herunter zu Fidelma, die sich noch in ihrem Sessel ausstreckte.
»Es gibt anscheinend zwei weitere Gäste«, bemerkte er. »Reiche Gäste, nach dem Gepäck in ihren Zimmern zu urteilen. Einer davon ist offenbar ein Geistlicher.«
Fidelma blickte überrascht auf.
»Ich wußte nicht, daß noch jemand an dem Treffen teilnehmen sollte. Wer könnte das sein?«
»Vielleicht hat Bischof Segdae noch jemanden geschickt, der ihn und die Abtei vertreten soll?« vermutete Eadulf.
»Kaum, denn er hat zugestimmt, daß Colgü mich entsendet. Nein, aus Imleach kann kein Geistlicher hier sein.«
Eadulf zuckte die Achseln.
»Hat Orla nicht gesagt, Ultan von Armagh hätte ihnen einen Gesandten geschickt? Nun, wir werden bald erfahren, wer der Geistliche und sein Begleiter sind. Wir ...«
Hier wurde er unterbrochen, denn die Tür des Hauses flog auf, und eine füllige ältere Frau kam geschäftig herein. Sie lächelte strahlend und lief mit raschen Schritten, die Hände vor sich gefaltet. Sie knickste rasch vor Fidelma und dann auch vor Eadulf. Ihre Augen blinzelten aus tiefen Fleischfalten hervor. Ihr Leib schien beinahe kugelförmig.
»Bist du die Verwalterin des Gästehauses?« fragte Eadulf beeindruckt, denn ihre Gegenwart schien den ganzen Raum zu füllen.
»Das bin ich, Fremder. Ich heiße euch willkommen. Sagt mir, was ich für euch tun kann?«
»Ein Bad«, verlangte Fidelma sofort. »Und dann ...«
»Etwas zu essen«, warf Eadulf ein, für den Fall, daß sie seine bevorzugte Bestellung vergaß.
Die Fleischringe erbebten.
»Ein Bad sollst du haben, Lady, und zwar sogleich. Da wir bereits Gäste haben, ist das Wasser schon heiß. Und das Essen ist auch vorbereitet.«
Fidelma erhob sich und drückte ihre Befriedigung aus.
»Dann kannst du für mich ein Bad richten ... Wie ist dein Name?«
Die Verwalterin knickste wieder.
»Ich heiße Cruinn, Lady.«
Fidelma bemühte sich krampfhaft, eine ernste Miene zu bewahren, denn der Name bezeichnete jemanden, der rund war, und paßte ausgezeichnet zu der kugeligen Figur der Verwalterin. Die Frau lächelte und merkte anscheinend nichts von Fidelmas Ringen um Fassung.
»Sag mal, Cruinn«, schaltete sich Eadulf ein, der die Frau ablenken wollte für den Fall, daß Fidelma ihren inneren Kampf verlor, »wer wohnt denn außer uns noch im Gästehaus?«
Die Dicke wandte sich ihm zu.
»Ach, auch jemand, der an euren Gott glaubt. Ein Edelmann aus dem Norden, glaube ich.«
»Ein Edelmann aus dem Norden?« fragte Fidelma, die plötzlich ernst geworden war.
»Nun, er ist reich gekleidet und trägt viel schönen Schmuck.«
»Weißt du, wie er heißt?«
»Nein, das weiß ich nicht. Aber der andere, sein Begleiter, der wird Bruder Dianach genannt und ist wohl sein Diener.«
»Sie sind aus dem Norden, sagst du?« wiederholte Fidelma, wie um sicherzugehen.
»Aus dem weit entfernten Königreich Ulaidh, habe ich gehört.«
»Wenn das Ultans Abgesandter ist, dann frage ich mich, was Armagh sucht in diesem .« Fast hätte Fidelma»gottverlassenen Land« gesagt, aber da die Leute hier nicht an Gott glaubten, war das wohl nicht die richtige Beschreibung. Orla hatte erwähnt, daß Ultan von Armagh dem Fürsten Laisre Geschenke geschickt hatte. Geschenke von Armagh. Aber das ergab keinen Sinn. Warum sollte Armagh einem heidnischen Fürsten Geschenke machen, dessen Herrschaftsbereich nicht in seine Zuständigkeit fiel und in dem die Menschen nicht einmal dem Glauben anhingen? Die füllige Verwalterin unterbrach ihr Grübeln.
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