»Fidelma! Was tust du da?« Colgu war mit aschfahlem Gesicht aufgesprungen. Seine Stimme durchschnitt das entsetzte Schweigen in der Großen Halle wie ein Peitschenschlag. »Du hast mich verraten!«
Nach diesem Aufschrei des Königs brach in der Großen Halle die Hölle los. Zornige Rufe der Adligen von Muman mischten sich in die Empörung des Volkes. Von allen Seiten wurden Fidelma Drohungen entgegengeschleudert, während sie ruhig vor den Richtern stand.
Brehon Rumann sah bestürzt aus. Es verstieß gegen jedes Protokoll, daß ein König die Verhandlung mit einem solchen Ausbruch störte. Es war auch gegen alle Regeln, daß ein Anwalt der Verteidigung sich in den Ankläger derer verwandelte, die er zu vertreten hatte. Das Geschrei in der Großen Halle war ohrenbetäubend. Rumanns Hammer konnte allein dem nicht Einhalt gebieten. Auch als der Haushofmeister mit seinem Stab auf den Boden klopfte, dauerte es noch eine Weile, bis der Lärm in ein unwilliges Gemurmel überging.
»Colgü von Cashel«, wandte sich Rumann streng an den König, »du mußt dich wieder auf deinen Platz setzen.«
Colgü war völlig verwirrt und konnte nicht glauben, was seine Schwester da gesagt hatte. Er zögerte, dann ließ er sich von seinem Barden und Ratgeber Cerball zu seinem Platz zurückführen. Abt Segdae hatte sich nicht gerührt. Er war bleich geworden vor Entsetzen.
Der Fürst der Ui Fidgente tauschte ein triumphierendes Lächeln mit Solam.
Nachdem etwas Ruhe eingetreten war, wandte sich Brehon Rumann mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln an Fidelma.
»Fidelma von Cashel, ich habe dir in dieser Verhandlung sehr viel Freiheit gelassen. Das kann ich nicht weiter tun. Zur Eröffnung habe ich die Anforderungen erläutert, die ich an diese Verhandlung stelle. Kein Anwalt darf in seinem Plädoyer die Seite wechseln und die Interessen seines Klienten verraten. Du hast dich eines Verstoßes gegen die Regeln dieses Gerichts schuldig gemacht, und ich verhänge über dich eine Geldstrafe von ...«
»Brehon Rumann!« Fidelmas Stimme war so scharf, daß sie den Vorsitzenden Richter innehalten ließ. »Ich habe weder die Seite gewechselt, noch habe ich die Interessen des Königs von Muman verraten. Laß mich das erklären.«
Rumann starrte sie entgeistert an. »Du hast doch aber tatsächlich die Seite gewechselt, denn in deinem Eröffnungsplädoyer hast du ganz klar vor Zeugen geäußert ...« Er nahm ein Blatt zur Hand, das ihm einer der Schreiber gereicht hatte. »Du hast gesagt, es gäbe keine Verschwörung des Königs von Muman mit dem Ziel, den Fürsten der Ui Fidgente ermorden zu lassen. Du hast deutlich erklärt, das würdest du beweisen. Jetzt sagst du, es gab eine solche Verschwörung des Königs von Muman.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich drücke mich sehr genau aus, wie ich es auch vom Gericht erwarte. Ich habe gesagt, ich kann die Eoghanacht nicht von der Verantwortung freisprechen. Ich habe nicht gesagt, daß Colgü verantwortlich ist. Weiser Richter«, fuhr Fidelma fort, »laß mich die Aufklärung dieser Angelegenheit in meiner eigenen Weise vortragen.«
Die Brehons Dathal und Fachtna neigten sich zu Rumann, und die drei Richter hielten eine Beratung im Flüsterton ab. Dann verkündete Rumann: »Dein Ersuchen ist ungewöhnlich, doch da der Fall den Frieden dieses Königreichs berührt, gewähren wir dir eine gewisse Freiheit in deiner Darlegung.«
Fidelma seufzte erleichtert. »Dies war auch kein gewöhnlicher Fall. Ich wurde einige Zeit durch andere Dinge abgelenkt, von denen ich annahm, daß sie mit der Lösung zu tun hätten, die jedoch nur eine Reihe unzusammenhängender Vorfälle darstellten, die den Weg eines der schrecklichsten Komplotte kreuzten, die die Vernichtung des Königreichs von Muman zum Ziel hatten.«
Erneut entstand Lärm unter den Zuhörern, und Rumann klopfte mehrmals mit seinem Hammer.
Solam war wieder aufgesprungen. »Behauptet sie jetzt, wir hätten vorgehabt, Colgü zu stürzen?« fauchte er. »Ich weiß nicht mehr, was sie will, denn in einem Augenblick behauptet sie dieses und im nächsten Moment das Gegenteil!«
Fidelma hob beide Hände. »Weise Richter, es gibt keinen kürzeren Weg zur Wahrheit, als wenn ihr mir die Zeit laßt, sie auf meine Art zu erklären.«
»Diese Freiheit hast du bekommen«, bestätigte Rumann. »Ich gestatte keine weiteren Unterbrechungen, bis die Anwältin für Cashel fertig ist.«
Widerwillig setzte sich Solam hin.
»Nun gut«, sagte Fidelma. »Ich brauche nicht zu erläutern, daß es Spannungen zwischen Muman und dem nördlichen Königreich von Ulaidh gibt. Die Ui Neill und die Eoghanacht liegen im Streit, seit dieses Land zuerst unter ihnen aufgeteilt wurde, seit jener grauen Vorzeit, als Eremon im Norden herrschte und Eber Fionn im Süden. Die Nachfahren Eremons, die Ui Neill, glauben wie einst Eremon selbst, sie sollten über ganz Eireann herrschen. Das war und ist der Grund der Spannungen in diesem Land. Auch jetzt noch, da wir unsere heidnische Vergangenheit hinter uns gelassen haben, sind die Bereiche der Häupter des Glaubens nach diesen politischen Grenzen geteilt. Der Comarb von Patrick in Armagh unterstützt seinen König, den Ui Neill, während hier in Muman der Comarb von Ailbe zu den Eoghanacht hält.«
»Geschichte!« höhnte Solam halblaut. »Müssen wir unsere Zeit mit alten Geschichten vergeuden? Wozu brauchen wir solche dunklen Überlieferungen?«
Zornig fuhr Fidelma zu ihm herum. »Ohne die Geschichte müßten wir kleine Kinder bleiben und würden nicht wissen, wer wir sind und woher wir kommen. Wenn wir die Vergangenheit nicht kennen, können wir die Gegenwart nicht verstehen, und wenn wir die Gegenwart nicht verstehen, können wir keine bessere Zukunft schaffen.« Sie wandte sich wieder an die Richter. »Weise Richter, bedenkt jene historischen Spannungen, denn sie sind wichtig.«
Sie hielt einen Moment inne. Jetzt herrschte Stille. Jeder kannte die Reibereien und Eifersüchteleien, an die sie erinnert hatte. Nicht zuletzt auch die Ui Fid-gente, die mehrmals bei ihrem Vorgehen gegen Cashel von ehrgeizigen Monarchen der Ui Neill unterstützt worden waren.
»Ich komme nun zu den Einzelheiten. Zunächst möchte ich sagen, daß es einen jungen Fürsten im Königreich Muman gibt, der von brennendem Ehrgeiz erfüllt ist. Er strebt nach der Macht, und um der Macht willen schert er sich nicht um Recht und Moral.«
»Nenne seinen Namen!« kamen sofort die Rufe von mehreren Seiten.
»Seinen Namen werde ich nennen«, erwiderte Fi-delma ruhig, »doch zu gegebener Zeit. In seiner Gier nach der Macht war dieser junge Mann entschlossen, Muman zu stürzen, damit er in die Machtlücke treten könnte. Nun ist Muman ein großes und starkes Königreich. Aber wo liegt Mumans Schwäche?«
Sie wandte sich Donennach zu, dem Fürsten der Ui Fidgente. Er wurde rot und schaute sie böse an.
»Es ist bekannt, daß die Ui Fidgente seit langem behaupten, eigentlich sollten sie in Cashel herrschen«, sagte sie.
»Das leugne ich nicht«, antwortete Donennach trotzig »Das ist Geschichte. Wie du es so schön ausgedrückt hast - es ist Geschichte.«
»Genau«, lächelte Fidelma. »Die Jahrhunderte hindurch haben die Eoghanacht viele Schlachten mit den Ui Fidgente ausgefochten. Dabei ging es immer um Cashel. Nun hat dieser junge Mann, wie ich schon sagte, ein Fürst dieses Landes, ein hinterhältiges Komplott geschmiedet, um Zwistigkeiten in Muman zu erregen. Er wollte ein Attentat in die Wege leiten, die Ermordung des Königs von Cashel. Der Attentatsversuch auf den Fürsten der Ui Fidgente war nur eine Verschleierung des wahren Zwecks .«
Sie schwieg, weil der Lärm ohrenbetäubend wurde. Solam und Donennach waren schreiend aufgesprungen, und die Krieger der Ui Fidgente mit Gionga an der Spitze stampften mit den Füßen, um ihren Unwillen zu bekunden. Die Großen Hallen durfte bei Festen oder Gerichtsverhandlungen niemand betreten, der nicht seine Waffen am Eingang abgelegt hatte. Wenn Gionga und seine Männer ihre Waffen zur Hand gehabt hätten, das wußte Eadulf, dann hätte es jetzt ernste Auseinandersetzungen gegeben.
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