Fidelma brach ab, lächelte und zuckte entschuldigend die Achseln. In Wahrheit redete sie nur davon, um sich von der Sorge um die Sicherheit ihres Bruders beim Brunnen von Ara abzulenken, die beständig an ihr nagte.
»Sprich weiter«, drängte Eadulf, denn er genoß die Leichtigkeit, mit der Fidelma die Legenden ihres Volkes erzählte und die alten Götter und Helden zum Leben erweckte.
Fidelma schaute wieder über das Tal zur Straße, die den Fluß Suir kreuzte, und weiter in Richtung auf den Brunnen von Ara. Nichts bewegte sich auf der Straße. Sie wandte sich wieder Eadulf zu.
»Man sollte es nicht billigen, aber viele in unserem Volk glauben fest daran, daß im Fall eines Diebstahls der Reliquien Ailbes nichts unser Land davor bewahren könnte, in die Hände seiner Feinde zu fallen. In den alten Sagen ist Ailbe ein Hund, der die Grenzen des Königreichs bewacht. Manche meinen, der Heilige sei nach diesem Hund benannt worden, deshalb betrachten sie ihn als eine Verkörperung des Hundes, der immer noch unsere Grenzen beschützt. Sollten seine Reliquien aus Imleach verschwinden, dann würde die Dynastie der Eoghanacht in Cashel gestürzt, das Königreich Muman zerrissen, und es gäbe keinen Frieden mehr im Land.«
Eadulf war sichtlich beeindruckt von dieser Legende.
»Ich hatte keine Ahnung, daß so etwas noch in deinem Volk lebendig ist«, meinte er mit leichtem Kopfschütteln.
Fidelma verzog das Gesicht.
»Ich unterstütze solchen Aberglauben nicht. Doch die Menschen glauben so fest daran, daß ich ihn lieber nicht auf die Probe stellen möchte.«
Sie blickte auf und erkannte eine Bewegung am Rande des fernen Waldes. Ein Lächeln froher Erleichterung breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Sieh nur, Eadulf! Dort kommt Colgü, und der Fürst der Ui Fidgente ist bei ihm.«
Eadulf blickte aus dem Fenster über die weiten bestellten Äcker zwischen der Stadt und dem ungefähr vier Meilen entfernten Fluß. Er konnte gerade wahrnehmen, daß auf dem Weg eine Reiterschar aus dem Wald hervorkam. Er warf Fidelma einen raschen Blick zu und bewunderte im stillen ihre Sehschärfe, denn außer der Tatsache, daß es Berittene waren, konnte er noch nichts ausmachen. Daß sie unter ihnen ihren Bruder zu erkennen vermochte, war ihm kaum vorstellbar.
Sie beobachteten schweigend, wie sich die Kolonne auf die Stadt unterhalb der Burg zu bewegte. Nun sah Eadulf das bunte Banner des Königs von Muman und ein anderes, das ihm nicht bekannt war, aber wohl dem Fürsten der Ui Fidgente gehörte.
Plötzlich ergriff Fidelma seine Hand und zog ihn fort vom Fenster.
»Gehen wir hinunter in die Stadt und sehen uns ihre Ankunft an, Eadulf. Dies ist ein großer Tag für Muman.«
Eadulf lächelte leise über ihre aufschäumende Begeisterung und ließ sich von ihr durch die Große Halle führen.
»Das verstehe ich nicht so ganz. Warum ist die Ankunft des Fürsten der Ui Fidgente so wichtig?« fragte er, während sie den Hof überquerten.
Fidelma ließ seine Hand los, sobald sie sicher war, daß er ihr folgte, und fiel in den würdigeren Schritt einer Nonne.
»Die Ui Fidgente sind einer der größeren Clans in Muman und leben westlich des Flusses Maigne. Ihre Fürsten haben sich oft geweigert, den Eoghanacht von Cashel Tribut zu zahlen oder sie überhaupt als Könige von Muman anzuerkennen. Sie erheben sogar selbst Anspruch auf die Königsherrschaft in Muman, mit der Begründung, daß ihre Fürsten ebenfalls von unserem gemeinsamen Ahnherrn Eoghan Mor abstammen.«
Sie ging rasch voran über den Hof, an der Kapelle vorbei und durch das Haupttor. Der wachhabende Krieger lächelte und grüßte sie. Colgüs Schwester war sehr angesehen in ihrem Volk. Eadulf hielt leicht Schritt mit ihr.
»Ist ihr Anspruch berechtigt?« fragte er.
Fidelma verzog schmollend den Mund. Sie war stolz auf ihre Sippe, und darin, das wußte Eadulf aus Erfahrung, unterschied sie sich nicht von den meisten irischen Adligen, die er kennengelernt hatte. Jede Sippe beschäftigte einen professionellen Genealogen, um sicherzugehen, daß alle Generationen und ihre vielfachen Verwandtschaftsverhältnisse genau und deutlich aufgezeichnet wurden. Nach dem Brehon-Gesetz wurde die Nachfolge durch den Beschluß eines Wahlmännerkollegiums geregelt, das aus bestimmten Generationen, derbfhine genannt, bestand, deshalb war es wichtig, die Generationen und ihr Verhältnis zueinander zu kennen.
»Fürst Donennach, der heute mit meinem Bruder herkommt, beruft sich darauf, in gerader männlicher Linie in der zwölften Generation von Eoghan Mor abzustammen, den wir als den Begründer unseres Hauses betrachten.«
Eadulf entging ihr sarkastischer Unterton, er schüttelte verwundert den Kopf darüber, mit welcher Leichtigkeit der irische Adel seine Verwandtschaftsbeziehungen bestimmen konnte.
»Also dieser Fürst Donennach entstammt einer jüngeren Linie deines Hauses?« fragte er.
»Wenn die Genealogen der Ui Fidgente die Wahrheit sagen«, erwiderte Fidelma mit Betonung. »Allerdings jünger nur entsprechend den Beschlüssen der derbfhine, die die Könige einsetzen.«
Eadulf seufzte tief.
»Dieses Verfahren ist mir schwer verständlich. Bei den Angelsachsen erbt immer das älteste männliche Kind der ältesten Linie, der Erstgeborene, wie gut oder schlecht das auch immer ist.«
Fidelma fand das nicht richtig.
»Eben. Wenn nun dieser Erstgeborene sich als ungeeignet erweist, geistesgestört ist oder schlecht beraten regiert, dann läßt die angelsächsische Sippe ihn umbringen. Bei uns wird der Mann gewählt, der sich am besten für die Aufgabe eignet, ob es nun der älteste Sohn, der Onkel, der Bruder, der Vetter oder der jüngste Sohn ist.«
»Wenn sich aber herausstellt, daß er schlecht regiert«, konterte Eadulf, »laßt ihr ihn dann auch töten?«
»Nicht nötig«, antwortete Fidelma achselzuckend. »Die derbfhine der Sippe treten zusammen, entheben ihn seines Amtes und setzen einen Fähigeren ein. Nach dem Gesetz darf er gehen und ihm niemand etwas tun.«
»Ruft er dann nicht seine Anhänger zur Rebellion auf?«
»Er kennt das Gesetz, und seine möglichen Anhänger kennen es auch. Sie wissen, daß sie für immer als unrechtmäßige Machthaber gelten würden.«
»Aber es wäre doch menschlich. Es kommt doch sicher vor.«
Fidelmas Miene war ernst. Sie neigte zustimmend den Kopf.
»Es kommt tatsächlich manchmal vor. Deshalb ist die Aussöhnung mit den Ui Fidgente so wichtig. Sie haben immer wieder gegen Cashel rebelliert.«
»Warum?«
»Sie begründen es mit dem, worüber wir eben sprachen. Unsere Sippe, die Colgüs und meines Vaters Failbe Fland, führt ihre Abstammung auf Conall Corc zurück, den Sohn des Luigthech, der ein Sohn von Ai-lill Flann Bec war, welcher wiederum ein Enkel von Eoghan Mor war, dem Gründer unseres Hauses.«
»Das glaube ich dir aufs Wort«, lächelte Eadulf. »Diese Namen sagen mir nichts.«
Fidelma bewahrte ihre Geduld.
»Die Linie der Ui Fidgente leitet sich von Fiachu Fidgennid her, dem Sohn des Maine Munchain, der ein weiterer Sohn von Ailill Flann Bec, dem Enkel von Eoghan Mor, war. Falls ihre Genealogen recht haben, wie ich sagte.« Sie verzog das Gesicht. »Unsere Genealogen meinen, sie hätten ihre Stammbäume gefälscht, damit sie Anspruch auf den Königssitz von Cashel erheben können. Doch an diesem glücklichen Tag werden wir uns nicht mit ihnen streiten.«
Eadulf bemühte sich, ihr zu folgen.
»Ich glaube, nun verstehe ich dich. Die Spaltung zwischen deiner Sippe und den Ui Fidgente begann zwischen zwei Brüdern, Luigthech, dem ältesten, und Maine Munchain, dem jüngeren.«
Fidelma lächelte mitfühlend und schüttelte den Kopf.
»Wenn ihre Genealogen recht haben, war Maine Munchain, der Stammvater der Ui Fidgente, der älteste Sohn von Ailill Flann Bec. Unser Ahnherr Luigthech war sein zweiter Sohn.«
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