Eadulf hob ratlos die Arme.
»Es ist schon schwer genug, eure irischen Namen zu behalten, aber erst die Generationenfolge ... Sagst du jetzt, daß die Ui Fidgente einen besseren Anspruch auf die Königswürde haben, weil sie von dem ältesten Sohn abstammen?«
Fidelma ärgerte sich über sein Unverständnis.
»Inzwischen solltest du unsere Thronfolgegesetze kennen, Eadulf. Sie sind doch so einfach. Maine Mun-chains Nachkommen wurden von den derbfhine der Sippe als ungeeignet für die Königswürde bezeichnet.«
»Es fällt mir trotzdem schwer, dir zu folgen«, gestand Eadulf. »Nach dem, was du sagst, stammen die Ui Fidgente nach den Regeln des Erstgeburtsrechts von einer älteren Linie ab und sind deshalb nicht bereit, die Herrschaft deiner Familie in Cashel anzuerkennen?«
»Ob ältere Linie oder nicht, unser Rechtssystem kennt kein Erstgeburtsrecht«, klärte ihn Fidelma auf. »Außerdem ereignete sich das alles vor fast zehn Generationen. Das ist so lange her, daß unsere Genealogen meinen, die Ui Fidgente seien überhaupt keine richtigen Eoghanacht, sondern stammten von den Dairine ab.«
Eadulf blickte zum Himmel auf.
»Und wer sind nun wieder die Dairine?« stöhnte er entmutigt.
»Ein altes Volk, das sich vor fast tausend Jahren das Königreich Muman mit den Eoghanacht teilte. Es gibt im Westen von hier noch einen Clan namens Corco Loigde, der behauptet, von den alten Dairine abzustammen.«
»Na, mein einfacher Verstand hat nun genug Genealogie und zu viele Namen aufgenommen.«
Fidelma kicherte leise über seine komische Leidensmiene, doch ihre Augen blieben ernst.
»Trotzdem ist es wichtig, daß du die politische Lage in diesem Königreich verstehst, Eadulf. Du erinnerst dich doch, daß wir im vorigen Winter ein Komplott der Ui Fidgente aufdeckten, die eine Rebellion anzetteln wollten, und daß mein Bruder ihnen ein Heer entgegenführen und sie bei Cnoc Äine zur Schlacht stellen mußte? Das war vor knapp neun Monaten.«
»Daran erinnere ich mich natürlich. Wie sollte ich das vergessen? Die Verschwörer hatten mich damals gefangengenommen. Aber fiel nicht der Herrscher der Ui Fidgente in der Schlacht?«
»Ja. Jetzt ist sein Vetter Donennach der Fürst der Ui Fidgente, und eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, Gesandte zu meinem Bruder zu schik-ken, um einen Vertrag auszuhandeln. Donennach kommt nach Cashel, um Frieden zu schließen. Es ist der erste Friede zwischen den Ui Fidgente und Cashel seit Jahrhunderten. Deshalb ist der heutige Tag so bedeutend.«
Sie waren vom Tor der Burg den steilen Pfad hinuntergegangen, der zum Fuß des Felsens von Cashel führte, und dem Weg um ihn herum bis zum Rand des Marktfleckens gefolgt. Die Stadt lag knapp eine Viertelmeile vom großen Felsen entfernt.
Die Einwohner der Stadt versammelten sich bereits, um den Einzug ihres Königs mit dem Fürsten der Ui Fidgente und seinem Gefolge anzuschauen. Die Reiterkolonne erreichte das Westtor der Stadt, als Fidel-ma und Eadulf sie durch das Osttor betraten und sich mit anderen zusammen an einer Seite des weiten Marktplatzes aufstellten.
Eine Gruppe von sieben Kriegern ritt an der Spitze des Zuges. Dann kam Colgüs Bannerträger. Das flatternde blaue Seidentuch zeigte den goldenen Hirsch, das Königswappen der Eoghanacht von Cashel. Dahinter ritt in guter Haltung der König selbst, ein hochgewachsener Mann mit rötlich glänzendem Haar. Nicht zum erstenmal fiel Eadulf die Ähnlichkeit der Gesichtszüge zwischen Colgü und seiner Schwester Fidelma auf.
Als nächster kam ein weiterer Bannerträger. Die über ihm flatternde weiße Seide zeigte in der Mitte einen roten Eber. Eadulf nahm an, dies sei das Wappen der Fürsten der Ui Fidgente. Hinter diesem Bannerträger ritt ein junger Mann mit vollem Gesicht und dunklem Haar, der jedoch auf seine Art ebenso gut aussah wie der rothaarige König von Muman. Trotz der behaupteten gemeinsamen Abstammung konnte Eadulf keine Spur von Verwandtschaft zwischen dem Fürsten der Ui Fidgente und dem König von Muman entdecken.
Den führenden Reitern folgten viele Krieger, von denen einige die Abzeichen des Ordens der Goldenen Kette trugen, der ausgewählten Leibwache der Eog-hanacht-Könige. An ihrer Spitze ritt ein junger Mann, der nur wenig jünger schien als Colgü und ihm leicht ähnelte. Allerdings waren seine Züge etwas grober geschnitten, und sein Haar war so schwarz wie das des Fürsten der Ui Fidgente. Er saß lässig, aber stolz im Sattel. Auch seine Kleidung verriet Eitelkeit: Er trug einen langen Mantel aus blaugefärbter Wolle, der auf der Schulter von einer glitzernden Spange gehalten wurde. Sie war aus Silber und zeigte die Sonnenscheibe, von der fünf Strahlen ausgingen, deren Enden jeweils ein kleiner roter Granat zierte.
Das war Donndubhain, wie Eadulf wußte, der Ta-nist oder erwählte Nachfolger des Königs von Cashel, ein Vetter Colgüs und Fidelmas.
Die Freude der Menschen beim Anblick des Reiterzuges war unverkennbar, sie jubelten und klatschten Beifall. Für die meisten bedeutete der gemeinsame Einritt des Königs von Cashel und des Fürsten der Ui Fidgente das Ende von jahrhundertelangen Fehden und Bluttaten und den Beginn eines neuen Zeitalters des Friedens und des Wohlstands für alle Völker in Muman.
Colgü wirkte entspannt und dankte winkend dem Jubel, während Donennach steif und anscheinend nervös im Sattel saß. Seine dunklen Augen spähten von einer Seite zur anderen, als halte er Ausschau nach Anzeichen von Feindseligkeit. Nur gelegentlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht, und er neigte kurz und knapp den Kopf zum Dank für den Applaus der begeisterten Menge.
Die Reiterschar überquerte den Marktplatz und näherte sich dem Pfad, der zu dem hohen Felsen mit dem Sitz der Könige von Cashel hinaufführte. Selbst Do-nennach von den Ui Fidgente schaute mit Bewunderung empor zu der Burg und dem Palast von Cashel.
Donndubhain hob den Arm, als wolle er dem Kriegertrupp signalisieren, auf den Weg zur Burg einzuschwenken.
Fidelma hatte sich durch die Menge nach vorn geschoben, von dem besorgten Eadulf gefolgt, weil sie ihren Bruder begrüßen wollte.
Als Colgü sie erblickte, verzog sich sein Gesicht zu einem jungenhaften Grinsen, wie es auch Fidelma in Augenblicken höchsten Vergnügens aufsetzen konnte.
Colgü zügelte sein Pferd und beugte sich tief vor, um seine Schwester zu begrüßen.
Diese Bewegung rettete ihm das Leben.
Mit einem eigenartigen dumpfen Laut bohrte sich der Pfeil in seinen Oberarm. Er schrie auf vor Schmerz und Schock. Hätte er nicht angehalten und sich niedergebeugt, hätte der Pfeil ein tödliches Ziel gefunden.
Vor Schreck waren alle wie erstarrt. Es schien ihnen eine lange Zeit, doch vergingen nur wenige Sekunden, bis ein zweiter Schmerzensschrei ertönte. Donennach, der Fürst der Ui Fidgente, schwankte im Sattel, ein Pfeil steckte in seinem Oberschenkel. Entsetzt sah Eadulf, wie er wankte und dann aus dem Sattel in den Straßenstaub stürzte.
Der Aufprall brachte alles in Bewegung und Aufruhr.
Ein Krieger der Ui Fidgente zog sein Schwert, brüllte »Mörder!« und sprengte auf eine Gebäudegruppe auf der anderen Seite des Marktplatzes zu. Einige seiner Männer folgten ihm, während andere zu ihrem gestürzten Fürsten eilten und sich mit gezogenen Schwertern um ihn scharten, als erwarteten sie einen Angriff auf ihn.
Eadulf sah, daß Donndubhain, Colgüs designierter Nachfolger, ebenfalls mit gezogenem Schwert den Kriegern der Ui Fidgente nachsetzte.
Fidelma war eine der ersten, die wieder zur Besinnung kam. Ihre Gedanken wirbelten. Zwei Pfeile waren auf ihren Bruder und seinen Gast abgeschossen worden, und beide hatten wie durch ein Wunder nicht tödlich getroffen. Anscheinend hatte der Krieger der Ui Fidgente die Flugbahn beobachtet und die Gebäude erkannt, in denen sich der Schütze verbarg, der den König von Cashel und den Fürsten der Ui Fidgente niederstrecken wollte. Nun, im Augenblick brauchte sie nicht darüber nachzudenken, weshalb auch Donn-dubhain auf die Jagd nach den Attentätern gegangen war.
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