»Das Gesetz geht mich schon etwas an, Abt Cild. Die Rituale des Gesetzes haben unterschiedliche Formen, doch ihre Moral läßt sich nicht leugnen. Wenn du ein Opfer bist, dann sprich dich aus und laß dir von Fidelma helfen, einen Weg zu finden, dieses rituelle Fasten gegen dich zu beenden. Wenn du dich vor dem Gesetz zu verantworten hast, dann laß dich von jemand beraten, der etwas von diesem Ritual des tros-cud versteht. Wenn man diese Sache falsch angeht, könnten daraus Krieg und großes Blutvergießen entstehen.«
Abt Cild hob den Kopf, seine dunklen Augen blickten unergründlich.
»Wenn es dazu kommt, werde ich mich zu schützen wissen«, antwortete er finster.
»Das hört sich nach Rückgriff auf Gewalt an. Ist das nicht eine eigenartige Haltung für jemanden von geistlichem Stande?« meinte Eadulf. »Warum willst du dich nicht mit dem Gesetz schützen, wenn du, wie du behauptest, keine Missetat begangen hast?«
Abt Cilds Augen funkelten plötzlich hell, und Eadulf fiel auf, daß seine Hände die Tischkante umklammerten.
»Ich brauche mich dir gegenüber nicht zu rechtfertigen.«
»Das vielleicht nicht«, stellte Eadulf gelassen fest. »Stimmt es, daß du eine Ehefrau namens Gelgeis hattest?«
Die Wangen des Abts röteten sich. Er gab keine Antwort, und Eadulf drängte ihn weiter.
»Hast du deine Meinung zum Zölibat vor oder nach deiner Heirat geändert?«
»Ich heiratete, als ich ...«, begann Abt Cild, für einen Moment überrumpelt. Dann unterbrach er sich und sah Eadulf trotzig an. »Ich habe dir schon gesagt, daß dich das nichts angeht. Du bist nicht mehr der ge-refa von Seaxmund’s Ham.«
»Was ist wahr an Garbs Beschuldigungen?« fragte Eadulf ruhig weiter und überging Abt Cilds Empörung.
»Kein Wort davon ist wahr!«
»Aber du hast gerade zugegeben, daß du diese Gelgeis geheiratet hast. Ich nehme an, daß sie wirklich Garbs Schwester und Gadras Tochter war und daß du sie im Königreich Connacht geheiratet hast?«
»Das leugne ich nicht. Doch woher weißt du, daß es in Connacht war? Das hat Garb nicht erwähnt.«
»Maigh Eo - die Ebene der Eiben - liegt in Con-nacht.«
»Du bist gut unterrichtet, Eadulf von Seaxmund’s Ham«, murmelte der Abt.
»Du bist nicht der einzige Angelsachse, der an den Universitäten von Eireann studiert hat«, erwiderte Eadulf. »Jedenfalls lautet die Antwort auf meine Frage, daß du deine Frau nach dem Gesetz der Fenechus geheiratet hast?«
»Auch das leugne ich nicht.«
»Und jetzt ist sie tot?«
Abt Cild schob das Kinn vor und stand auf.
»Sie ist tot. Das weiß ich ganz bestimmt. Niemand kann etwas anderes beweisen! Hörst du? Ich dulde es nicht, daß du das Gegenteil behauptest!«
Eadulf war verblüfft.
»Ich habe doch nicht ...«, begann er. Dann bemerkte er den Blick des Abts und fuhr fort: »Ich versuche dir nur zu helfen. Es ist eine sehr schwerwiegende Anklage gegen dich erhoben worden. Wäre es dir da nicht recht, wenn dich jemand berät, der das Gesetz kennt, nach dem man dich beschuldigt?«
»Ein ausländisches Gesetz, das in diesem Land keine Gültigkeit besitzt. Wenn ich angegriffen werde, habe ich hier einen guten Schiedsmann.«
Erst verstand ihn Eadulf nicht. Dann folgte er dem bedeutungsvollen Blick des Abts zu einer nahen Wand. Dort hingen ein Schwert und ein Schild. Am vorigen Abend war es zu dunkel gewesen, als daß Eadulf diese unpassende Dekoration bemerkt hätte. Schwert und Schild eines Kriegers hingen im Zimmer eines Abts.
Eadulf öffnete den Mund, doch der Abt winkte ihm zu schweigen.
»Wir wollen darüber nicht mehr sprechen, Bruder Eadulf. Und du sagst darüber zu niemandem etwas. Du wirst die . die Frau, die du gestern abend gesehen haben willst, nicht erwähnen. Ist das klar?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Abt Cild um und verließ das Zimmer. Eadulf dachte über das Verhalten des Abts nach. Es kam ihm der Gedanke, daß er den Abt der Heuchelei überführt hatte. Könnte die Frau, die er gesehen hatte, Cilds Geliebte sein oder . Er riß die Augen auf. Der Einfall wäre Fidelmas kühnen Folgerungen würdig. Könnte die Frau Cilds Ehefrau Gelgeis sein und Cild dem Rest der Welt weismachen, sie wäre tot, um zu verheimlichen, daß er nach wie vor mit ihr zusammenlebte, während er vorgab, sich zum Zölibat zu bekennen? Ein verlockender Gedanke! Vielleicht glaubte ihre Familie deswegen, er habe sie umgebracht. Er wünschte, Fidelma ginge es so gut, daß er darüber mit ihr sprechen könnte, doch er beschloß, sie nicht damit zu behelligen. Abt Cild war zweifellos ein schlauer Fuchs.
Als Eadulf das Zimmer des Abts verließ, kam ihm auf dem Korridor ein hochgewachsener blonder Mönch entgegen. Er hatte ein angenehmes Gesicht, mochte etwa dreißig Jahre alt sein, und sein flachsgelbes Haar hing in krausen Locken von seiner corona spina herab, der Tonsur des heiligen Petrus. Er besaß einen hellen Teint, leuchtende Augen und ein freundliches Lächeln. Seine aufrechte Haltung verriet einen Stolz, wie er sich für einen Mönch kaum ziemte.
»Guten Morgen, Bruder«, sagte er fröhlich und blieb vor Eadulf stehen. »Ich nehme an, du bist Bruder Eadulf, der Gefährte von Schwester Fidelma?«
Eadulf verneigte sich leicht. »Du kennst mich, Bruder, doch ich kenne dich nicht.«
»Ich bin der Apotheker der Abtei. Mein Name ist Higbald.«
Eadulfs Spannung wich, und er erwiderte das Lächeln. »Hast du Schwester Fidelma schon untersucht?«
»Ja. Sie hat Fieber, weil sie zu sehr der harten Witterung ausgesetzt war. Du hast ihr schon alle nötigen Arzneien verordnet. Mehr könnte ich auch nicht für sie tun. Die Schwester erzählte mir, du seist an einer der medizinischen Hochschulen in Eireann ausgebildet worden? Die genießen einen guten Ruf.«
»Ich habe in Tuaim Brecain studiert«, bestätigte Eadulf. »Aber sag mir, was du uns empfiehlst, Bruder Higbald. Abt Cild möchte, daß wir die Abtei sofort verlassen.«
Bruder Higbald lachte freundlich. »Bei diesem unwirtlichen Wetter? Der Schneefall hat zwar aufgehört, und die Sonne steht hoch am Himmel, aber die Luft ist eisig. Es ist so kalt, daß jeder mittelgroße Teich zufriert. Das ist kein Reisewetter. In ihrem Zustand wäre das sehr unklug. Das werde ich dem Abt auch sagen.«
Eadulf seufzte erleichtert. »Vielen Dank, Bruder Higbald. Ich fürchte, Abts Cilds Gastfreundschaft gegenüber Fidelma läßt sehr zu wünschen übrig.«
Bruder Higbald schaute ihn mitfühlend an und nahm seinen Arm.
»Gehen wir ein paar Schritte, Bruder Eadulf.«
Er führte Eadulf den Korridor entlang und hinaus auf einen überdachten Gang an der Seite des Mittelhofes, des Haupthofes, um den sich die Gebäude der Abtei gruppierten. Es hatte aufgehört zu schneien, wie Bruder Higbald gesagt hatte, doch die Luft war kalt, und der Schnee lag hoch. Es war trockener, feiner Schnee, den die Windstöße umherwirbelten.
Bruder Higbald schlug einen vertraulichen Ton an.
»Ich werde natürlich dafür sorgen, daß dem Abt die Situation klar wird. Aber verurteile ihn nicht wegen seiner starren Haltung. Er hat viel durchgemacht. Es ist eben seine Art, sich zu schützen.«
»Ich verstehe, daß es ihm nicht gut geht«, gab Eadulf zu. »Ich war gestern abend in der Kapelle dabei.«
Bruder Higbald verzog das Gesicht. »Ach, du meinst den ziemlich dramatischen Auftritt des irischen Kriegers? Dem liegen anscheinend imponierende Gesten.«
»Du kennst ihn also?«
»Kennen ist vielleicht zuviel gesagt. Ich habe ihn gerade zweimal gesehen.«
»Und wann war das?«
»Das erstemal, als er in die Abtei kam, um mit Abt Cild zu sprechen. Das zweitemal gestern abend. Beide Male verlief sein Erscheinen dramatisch.«
»Dramatisch? Wann kam er denn das erstemal in die Abtei?«
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