Eadulf reichte ihr den Becher.
»Ich habe es versucht«, antwortete er. »Ich meine, hier lauert ein größeres Geheimnis, als man auf den ersten Blick erkennt.«
So ausführlich wie möglich gab er seine Gespräche mit dem Abt und mit Bruder Higbald wieder.
»Ich wüßte nicht, daß du diese fremde Frau schon einmal erwähnt hättest«, bemerkte Fidelma stirnrunzelnd. »Aber wenn eine Frau im Kloster ist, warum leugnen sie es?«
Eadulf zuckte die Achseln. »Zunächst hielt ich das nicht für wichtig. Erst als Abt Cild mich darüber belehrte, daß Frauen in seiner Abtei nichts zu suchen hätten, habe ich ihm das vorgehalten.«
»Und du sagst, es war keine Nonne?«
»Nein. Sie war gut gekleidet und offensichtlich jemand von Rang und Wohlstand, aber jedenfalls keine Angehörige der Abtei.«
»Wie kamst du darauf, daß sie die Frau des Abts sein könnte?«
»Das war nur so eine Idee von mir. Es würde seine Reaktion auf Garbs Anschuldigungen erklären.«
»Diese Beweisführung hat mehrere Schwachpunkte, Eadulf. Ist sie noch am Leben, warum sagt er das dann Garb und seinem Vater nicht und verhindert damit die öffentliche Anklage gegen sich? Du sagst, Bruder Hig-bald leugnete die Existenz dieser Frau in der Abtei?«
»Das tat er, aber man muß ihm nicht notwendigerweise Glauben schenken.«
»Kann auch sein, daß er und die anderen Mitglieder der Gemeinschaft einfach nichts von ihrer Anwesenheit wissen. Möglicherweise kommt und geht sie heimlich.«
»Vielleicht eine Geliebte?«
»Du weißt nicht genug für solche voreiligen Vermutungen, Eadulf.« Fidelma seufzte. »Und jetzt muß ich eine Weile ruhen. Stell mehr Fragen und zieh weniger Schlußfolgerungen.« Sie nahm noch einen Schluck von dem Kräutertrank und rollte sich auf die Seite.
Eadulf ging leise hinaus.
Draußen traf er Bruder Willibrod. Er stand mit einem anderen Mönch zusammen, einem breitschultrigen jungen Mann. Der dominus sah weniger besorgt aus als zuvor und begrüßte Eadulf.
»Wie ich höre, ist alles in Ordnung. Es ist nicht die Gelbe Pest, sondern ein Fieberanfall. Abt Cild hat mir gesagt, daß ihr noch ein paar Tage bleiben könnt, bis Schwester Fidelma sich erholt hat. Kann man etwas zu ihrer Genesung tun?«
Eadulf schüttelte den Kopf. »Sie braucht Ruhe und Wärme, und vielleicht kann ihr jemand zum Mittag eine klare Brühe bringen?«
»Das soll geschehen. Ich werde Bruder Redwald damit beauftragen. Übrigens, dies ist Bruder Wigstan. Du wolltest ihn sprechen.«
Eadulf schaute den jungen Mann an. »Ich hörte, du hättest diesen Geächteten, diesen Aldhere gesehen?«
Bruder Wigstan nickte langsam. »Ich kehrte gestern am frühen Morgen in die Abtei zurück. Ich beeilte mich, um zum Gesang des Morgengebets zurechtzukommen ...«
»Wo warst du gewesen?« unterbrach ihn Eadulf.
»Ich kam von der Küste zurück und brachte Fisch in die Abtei. Als ich mit meinem Karren auf der nahen Straße fuhr, sah ich jemand wegreiten. Ich könnte schwören, daß es Aldhere war.«
Eadulf runzelte leicht die Stirn. »Sehr sicher klingst du nicht.«
»Ich bin mir sicher. Es war bei dem kleinen Gehölz seitlich von der Abtei, da habe ich ihn gesehen.«
»Da du ihn erkannt hast, mußt du ihm früher schon begegnet sein?«
»Ich bin auf meinen Fahrten zur Küste schon zweimal von ihm beraubt worden«, erklärte Bruder Wigstan verbittert. »Ich kenne ihn.«
»Und jedes Mal ließ er dich unversehrt ziehen? Anscheinend ist er nicht so ein verkommener Schurke, wie man ihn mir beschrieben hat.«
»Ist das alles, Bruder?«
Eadulf nickte zerstreut.
Als Bruder Wigstan gegangen war, wandte er sich an Bruder Willibrod.
»Und auf solch eine Beobachtung hin soll ein Mensch getötet werden?« fragte er zweifelnd. »Das ist doch wohl kaum ein Beweis. Ich habe noch eine Bitte an dich.«
»Nämlich?« fragte der dominus vorsichtig.
»Ich sagte dir schon, daß ich ein guter Freund von Bruder Botulf war. Ich würde gern seine persönlichen Habseligkeiten sehen.«
»Die Brüder in Christo besitzen keine persönlichen Habseligkeiten«, korrigierte ihn Bruder Willibrod schroff. »Kennst du nicht die Regeln der Didache?«
Die Didache oder »Die Lehre der zwölf Apostel« war ein Buch über die Ordnung der Kirche und des kirchlichen Lebens, das man der frühesten christlichen Gemeinschaft zuschrieb. Eadulf hatte es nie gelesen oder bewußt seine Regeln befolgt. Er schüttelte den Kopf.
»Die Didache sagt«, zitierte der dominus mit sonorer Stimme: »>Teile alles mit deinem Bruder. Sage nie: Das ist persönliches Eigentum. Wenn du am Unvergänglichen teilhast, solltest du um so eher bereit sein, vergängliche Dinge zu teilen.««
»Ich habe diese Lehre schon von anderen Kirchenvätern gehört«, gestand Eadulf. »Soll das die Regel sein, die ihr hier befolgt?«
»Wir geben uns Mühe, uns an die wahren Regeln des Glaubens zu halten«, erwiderte Bruder Willibrod steif.
»Dennoch würde ich gern einen Blick in die Zelle meines guten Freundes werfen.«
»Ich weiß nicht, ob sie schon freigegeben ist.«
»Darf ich darum bitten?«
Bruder Willibrod zuckte plötzlich die Achseln, als sei es ihm gleich. »Na gut. Ein Moment der Besinnung ist zulässig. Komm mit.« Er drehte sich um und ging voran durch die Abtei, an dem Schlafsaal und dem Speisesaal vorbei. »Als Verwalter der Abtei hatte Bruder Botulf sein Zimmer hier«, erklärte er, wies auf eine Tür und trat beiseite.
Bruder Eadulf betrat den kleinen Raum.
Drinnen befand sich kaum etwas. Eine Kutte und ein Mantel hingen noch an den Holzpflöcken an der Wand, ebenso eine Buchtasche. Darunter sah Eadulf ein Paar abgetragener Sandalen auf dem Boden. Das Bett bestand aus einer einzigen Strohmatratze auf einem Holzgestell, und darauf lagen mehrere sauber gefaltete Decken. Auf dem kleinen Tisch waren eine Kerze und eine Zunderbüchse. Dann gab es noch einen Becher, einen Krug und einen Waschzuber.
»Wie du siehst, Bruder Eadulf«, bemerkte der dominus von der Tür her, »Bruder Botulf besaß so gut wie nichts.«
Eadulf nickte. »Ich finde das traurig. Ein Leben ist vorüber, und nichts ist geblieben als die Erinnerungen der paar Menschen, die ihn kannten. Die Erinnerungen verlöschen bald, und alles ist verflogen wie Rauch im Wind.«
»Besitztümer sind ein Ärgernis, sie führen die Menschen in Versuchung«, erwiderte Bruder Willibrod steinern. »Hat nicht der heilige Basil der Große erklärt, daß Eigentum Diebstahl sei? Wir Glaubensmänner müssen alle persönlichen Sachen abschaffen. Im Glauben sind wir alle gleich.«
Eadulf seufzte resigniert. »Ich meine, es war Aristoteles, der sagte, es seien nicht die Besitztümer, sondern die Wünsche der Menschen, die gleichgemacht werden müßten.«
Er wandte sich der Tasche zu, die an der Wand hing. Darin befand sich ein kleines Buch mit Bibelzitaten in lateinischer Sprache. Als Eadulf es herausnahm, erblickte er ein zusammengeknülltes Stück Papier am Boden der Tasche. Er zog es so heimlich hervor, daß Bruder Willibrod nicht bemerkte, wie er es im Ärmel seiner Kutte verschwinden ließ.
»Ich muß dieses Buch ins scriptorium zurückbringen«, sagte Bruder Willibrod und streckte die Hand danach aus.
»War es nicht Botulfs Buch?« fragte Eadulf.
»Hier ist alles gemeinsames Eigentum«, erwiderte Bruder Willibrod.
Eadulf sah zu, wie der dominus das Buch wieder in die Tasche steckte und diese vom Pflock nahm. Eadulf benutzte die Gelegenheit, das Stück Papier in den kleinen sacculus zu tun, den er am Gürtel trug. Bruder Willibrod wandte sich wieder zu ihm um.
»Hast du genug gesehen?«
Eadulf neigte zustimmend den Kopf. Als sie über den Haupthof zurückgingen, fragte er: »Sag mir, Bruder Willibrod, als dominus der Abtei kennst du doch jeden, der hier kommt und geht, nicht wahr?«
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