»Ist es nicht rätselhaft, daß ein alter Mann geächtet und sein eigener Sohn anschließend dieses Verbrechens angeklagt werden kann? Und ist es nicht merkwürdig, daß ausgerechnet der elende Capito davon profitieren sollte? Und noch merkwürdiger, daß eben dieser Capito der erste in ganz Ameria ist, der Wind von dem Mord bekommt, und der Überbringer der nächtlichen Nachricht ist Glaucia - der nur von einem Mann geschickt worden sein kann, jenem niederträchtigen Magnus. Wie hat Magnus so schnell von dem Vorfall erfahren, warum hat er einen Boten losgeschickt, und wie kommt der in Besitz des blutigen Dolches? Für dich ist der Fall ganz klar, oder nicht? Zumindest glaubst du das.
Mein Sohn erzählt dir, der junge Sextus sei unschuldig, aber mein Sohn ist ein Narr, und du wärest ebenso ein Narr, wenn du auf ihn hören würdest. Er sagt, er hört alles, was in diesem Raum gesprochen wird, aber er hört gar nichts; er ist viel zu beschäftigt damit, selber zu reden. Ich bin derjenige, der hört. Seit zehn Jahren, seit ich meine Augen verloren habe, habe ich gelernt zu hören. Davor hab ich auch nie was gehört - ich dachte, ich hätte gehört, aber ich war taub, genau wie du taub bist oder jeder andere Mensch mit Augen auch. Du würdest nicht glauben, was ich alles höre. Ich höre jedes Wort, was in diesem Raum gesprochen wird, und sogar ein paar, die nicht gesagt werden. Ich höre die Worte, die Männer still vor sich hinflüstern, ohne sich bewußt zu sein, daß ihre Lippen sich bewegen oder ihr Atem leise Seufzer ausstößt.«
Ich berührte seine Schulter und wollte ihn sanft beiseite schieben, aber er stand fest wie eine Eisenstange.
»Der junge und der alte Sextus Roscius, ich kenne sie beide seit Jahren. Und laß mich dir eines sagen, egal wie unmöglich es scheint und worauf alle anderen Beweise auch hindeuten mögen, der Sohn steckt hinter dem Mord an dem Vater! Wie sie sich gegenseitig gehaßt haben! Es fing an, als Roscius seine zweite Frau nahm und einen Sohn von ihr hatte, Gaius, den Sohn, den er bis zu dessen Tod verwöhnte und verhätschelte. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem er den Säugling mit in diese Taverne brachte und jedem das hübsche, goldgelockte Ding in den Arm drückte, denn welcher
Vater ist nicht stolz auf einen neugeborenen Sohn. Und der junge Sextus stand derweil in der Tür, vergessen, unbeachtet, aufgeblasen, voll Haß wie eine Kröte. Damals konnte ich noch sehen. Ich weiß nicht mehr, wie eine Blume aussieht, aber das Gesicht dieses jungen Mannes sehe ich noch immer vor mir, und den Ausdruck purer Mordlust in seinen Augen.«
Ich glaubte gehört zu haben, daß der Wirt zurückgekommen war, und sah mich um.
»Sieh mich an!« kreischte der alte Mann. »Glaub nicht, ich wüßte nicht, wann du dich abwendest - ich höre es an deinem Atem. Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Und höre die Wahrheit: Der Sohn haßte den Vater, und der Vater haßte den Sohn. Ich konnte spüren, wie der Haß in genau diesem Raum wuchs und schwärte, Jahr für Jahr. Ich hörte die Worte, die nie ausgesprochen wurden - die Worte der Wut, der Verbitterung, der Rache. Und wer sollte es einem von beiden verdenken, vor allem dem Vater - einen solchen Sohn zu haben, einen solchen Versager, eine solche Enttäuschung. Ein gieriges, kleines Schwein, das ist aus ihm geworden. Gierig und fett und respektlos. Stell dir den Kummer vor, die Verbitterung! Ist es ein Wunder, daß mein Enkel nie zu Besuch kommt und nicht mit seinem Vater reden will? Man sagt, Jupiter verlangt, daß ein Sohn seinem Vater gehorcht und ein Vater seinem Vater, aber welche Ordnung kann es geben in einer Welt, in der die Männer blind oder fett werden wie die Schweine? Die Welt ist ein Trümmerfeld, verloren und ohne jede Hoffnung auf Erlösung. Die Welt ist finster ... «
Ich wich entsetzt zurück. Im nächsten Moment schob mich der fette Wirt beiseite, packte den alten Mann bei den Schultern und zerrte ihn aus dem Weg. Ich trat durch die Tür und sah mich um. Die milchigen Augen des Alten waren starr auf mich gerichtet. Er plapperte weiter. Sein Sohn hatte das Gesicht abgewendet.
Ich band Vespa los, stieg auf und ritt, so schnell ich konnte, aus der Stadt und über die Brücke.
17
Vespa schien es genauso eilig zu haben wie ich, das Dorf Narnia hinter sich zu lassen. Sie muckte nicht auf, als ich sie für den Rest unserer Tagesreise hart herannahm. Als wir ein wenig nördlich von Narnia eine Weggabelung erreichten, blieb sie nur widerwillig stehen.
An der Gabelung stand ein öffentlicher Wassertrog. Ich ließ sie langsam trinken und zügelte sie jedesmal nach einigen Schlucken. Hinter dem Trog stand ein primitives Schild, ein auf einen Stock montierter Ziegenschädel. In die ausgebleichte Stirn hatte jemand einen nach links weisenden Pfeil und das Wort AMERIA geritzt. Ich verließ die breite Via Flaminia und folgte der Nebenstraße nach Ameria, einem schmalen Pfad, der sich auf den Sattel einer steilen Hügelkette wand.
Wir begannen den Aufstieg. Auch Vespa wurde jetzt langsam müde, und die Stöße gegen mein Hinterteil ließen mich mit den Zähnen knirschen. Ich beugte mich vor und streichelte ihren Hals. Die letzte Hitze des Tages löste sich nach und nach auf, und die steile Wand der Hügelkette tauchte uns in kühlen Schatten.
Unweit des Gipfels traf ich auf eine Gruppe von Sklaven, die sich um einen Ochsenkarren geschart hatten und halfen, ihn auf die Kuppe des Hügels zu schieben. Das Vehikel schlingerte und schwankte, bis es schließlich ebenen Boden erreicht hatte. Die Sklaven stützten sich aufeinander, einige von ihnen lächelten erleichtert, andere waren zu erschöpft, um irgendwelche Gefühlsregungen zu zeigen. Ich ritt bis zum Wagenlenker vor und winkte.
»Machst du diese Fahrt oft?« fragte ich.
Der Junge fuhr zusammen, als er meine Stimme hörte, und lächelte dann. »Nur wenn es etwas zum Markt nach Narnia zu bringen gibt. Die Fahrt diesen Hügel hinunter ist der eigentlich gefährliche Teil.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Im letzten Jahr haben wir dabei einen Sklaven verloren. Er hat geholfen, den Wagen bei der Talfahrt abzubremsen und ist unter ein Rad gekommen. Auf der anderen Seite nach Ameria runter ist es nicht halb so steil.«
»Aber es geht trotzdem bergab. Das wird meinem Pferd gefallen.«
»Ein wunderschönes Tier.« Er betrachtete Vespa mit der Bewunderung eines Bauernjungen.
»Und«, sagte ich, »kommst du aus Ameria?«
»Nicht direkt. Ich lebe außerhalb der Stadt am Fuß des Hügels.«
»Vielleicht kannst du mir sagen, wie ich das Haus von Sextus Roscius finde.«
»Das kann ich schon. Es ist nur so, daß Sextus Roscius nicht mehr dort lebt.«
»Du meinst den Alten?«
»Oh, den man ermordet hat? Wenn du den suchst, wirst du seine Überreste in der Familiengruft finden. Er hat nie in Ameria gelebt, soweit ich weiß, jedenfalls nicht seit meiner Geburt.«
»Nein, nicht den alten Mann; den Sohn.«
»Er hat ganz in der Nähe vom Haus meines Vaters gelebt, wenn du den mit den beiden Töchtern meinst.«
»Ja, er hat eine Tochter etwa in deinem Alter; ein sehr hübsches Mädchen.«
Der Bursche grinste. »Sehr hübsch. Und sehr freundlich.« Er zog die Brauen hoch, was wohl welterfahren wirken sollte. Das Bild von Roscias nacktem Körper blitzte in meinem Kopf auf. Ich sah sie gegen die Wand gedrückt, matt vor Befriedigung, mit dem vor ihr knienden Tiro. Vielleicht war er nicht der erste gewesen.
»Erklär mir den Weg zu seinem Haus«, sagte ich. Er zuckte die Schultern. »Ich kann dir erklären, wie man dort hinkommt, aber wie gesagt, es ist nicht mehr sein Haus. Man hat Sextus Roscius vertrieben.«
»Wann?«
»Vor ungefähr zwei Monaten.«
»Und warum?«
»Per Gesetz, verfügt von Rom. Sein Vater war geächtet worden. Weißt du, was das heißt?«
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