»Den alten Sextus Roscius? Nein. Also, so gut wie gar nicht. Er war hin und wieder hier, als ich noch ein Junge war, stimmt’s nicht, Vater? Aber in letzter Zeit kaum noch. Schon seit etlichen Jahren nicht mehr. Ein verstädterter Römer mit weltgewandten Manieren, das ist er geworden. Wahrscheinlich ist er noch manchmal nach Hause gekommen, aber er hat nie hier haltgemacht. Hab ich recht, Vater?«
»Narr«, knurrte der alte Mann. »Fetter, tolpatschiger Narr...«
Der Wirt wischte sich erneut die Stirn, warf einen Blick auf seinen Vater und schenkte mir ein verlegenes Lächeln. Ich betrachtete den Alten mit aller falschen Zuneigung, die ich aufbringen konnte, und zuckte mit den Schultern, als wollte ich sagen: Ich verstehe. Alt und unmöglich zu ertragen, aber was soll ein guter Sohn schon machen?
»Eigentlich meinte ich den Sohn, als ich dich fragte, ob du diesen Roscius kennst. Wenn es wahr ist, was man ihm vorwirft - naja, man muß sich ja fragen, was ist das für ein Mensch, der ein derartiges Verbrechen begehen könnte.«
»Sextus Roscius? Ja, den kenne ich. Nicht gut, aber gut genug, um ihn auf der Straße zu grüßen. Etwa in meinem Alter. An Feiertagen ist er hierher auf den Markt gekommen. Und dann hat er auch öfter mal dem blökenden Lamm einen Besuch abgestattet.«
»Und was denkst du? Konnte man es ihm ansehen?«
»Oh, er war über den alten Herrn verbittert, keine Frage. Nicht daß er dauernd davon gesprochen hätte, er war nicht der Typ, der Reden schwingt, selbst wenn er schon ein paar intus hatte. Aber hin und wieder mal ließ er ein Wort fallen. Andere Leute hätten es wahrscheinlich gar nicht bemerkt, aber ich höre zu, und ich höre so manches.«
»Dann glaubst du, er könnte es wirklich getan haben?«
»O nein. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß er es nicht war.«
»Und woher?«
»Weil er nicht mal in der Nähe von Rom war, als es passiert ist. Oh, es gab jede Menge Gerede, als die Nachricht vom Tod des Alten bekannt wurde, und es gab jede Menge Leute, die bezeugen konnten, daß Sextus seinen Haupthof in Ameria schon seit Tagen nicht mehr verlassen hatte.«
»Aber man beschuldigt den Sohn ja auch gar nicht, selbst zugestochen zu haben. Angeblich hat er bezahlte Mörder gedungen.«
Darauf wußte der Wirt auch nichts zu sagen, war jedoch offensichtlich unbeeindruckt. Er runzelte gedankenvoll die Stirn. »Merkwürdig, daß du den Mord erwähnst. Ich war praktisch der erste, der davon gehört hat.«
»Der erste in Narnia, meinst du?«
»Der erste überhaupt. Es war im letzten September.« Er starrte auf die gegenüberliegende Wand und erinnerte sich. »Der Mord ist nachts passiert; ja, so muß es wohl gewesen sein. Hier in der Gegend herrschte kaltes Wetter, es ging ein böiger Wind, und der Himmel war grau. Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich dir jetzt wahrscheinlich erzählen, daß ich in jener Nacht einen bösen Traum hatte oder aufgewacht bin, und ein Geist war im Zimmer.«
»Frevel!« knurrte der alte Mann und schüttelte angewidert den Kopf. »Kein Respekt vor den Göttern.«
Der Wirt schien ihn nicht gehört zu haben und starrte noch immer in die Tiefen der fleckigen Lehmwand. »Aber irgend etwas muß mich aufgeweckt haben, denn ich war am nächsten Morgen sehr früh auf den Beinen. Früher als gewöhnlich. «
»Er war schon immer ein Faulpelz«, murmelte der Alte.
»Warum sollte ein Wirt früh aufstehen? Die Kunden kommen ohnehin meistens erst am späten Vormittag. Aber an jenem Morgen war ich vor Tagesanbruch wach. Vielleicht hatte ich etwas Schlechtes gegessen.«
Der alte Mann schnaubte und knurrte. » Etwas Schlechtes gegessen! Ist es zu fassen?«
»Ich hab mich gewaschen und angezogen. Ich hab meine Frau schlafen lassen und bin die Treppe runter in diesen Raum gekommen. Über den Hügeln sah man die ersten Streifen der Dämmerung. Es hatte über Nacht aufgeklart; nur am Horizont im Osten stand eine einzelne Wolke, die von unten in rotes und gelbes Licht getaucht war. Und auf der Straße kam ein Mann aus südlicher Richtung. Ich habe ihn als erster gehört - du weißt doch, wie weit Geräusche zu hören sind, wenn die Luft noch still und kühl ist. Dann hab ich ihn gesehen, in einem leichten, von zwei Pferden gezogenen Wagen, so schnell, daß ich fast ins Haus gegangen wäre, um mich zu verstecken. Statt dessen hielt ich die Stellung, und als er herankam, wurde er langsamer und blieb stehen. Er nahm seine Lederkappe ab, und ich erkannte, daß es Mallius Glaucia war.«
»Ein Freund?«
Der Wirt rümpfte die Nase. »Vielleicht hat er einen Freund, jedenfalls nicht mich. War früher Sklave, und selbst damals war er schon unverschämt und arrogant. Sklaven schlagen nach ihren Herren, und das gilt ganz besonders für Mallius Glaucia.
Auf der anderen Seite des Hügels in Ameria wirst du zwei verschiedene Zweige der Familie Roscius antreffen«, fuhr er fort. »Sextus Roscius, Vater und Sohn, die Ehrbaren, die das Gut aufgebaut und sich ein Vermögen erarbeitet haben; und diese beiden Vettern, Magnus und Capito und ihre Familie. Üble Typen, würde ich sagen, obwohl ich nicht behaupten kann, je viel mit ihnen zu tun gehabt zu haben, außer daß ich hin und wieder ein Glas Wein an sie ausgeschenkt habe. Aber manchen Menschen sieht man es einfach an, daß sie gefährlich sind. Und solche Typen sind Magnus und der alte Capito. Mallius Glaucia, der Mann, der an jenem Morgen aus dem Süden herangedonnert kam, war von Geburt an Magnus’ Sklave, bis der ihn freigelassen hat. Zweifelsohne als Belohnung für irgendein entsetzliches Verbrechen. Glaucia blieb weiter in Magnus’ Diensten, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Sobald ich sah, daß er der Mann auf dem Wagen war, wünschte ich, ich wäre hinter der Tür verschwunden, bevor er mich sehen konnte.«
»Ein großer Mann, dieser Mallius Glaucia?«
»Die Götter selbst können nicht größer sein.«
»Hübsch anzusehen?«
»Er hat vielleicht hübsches blondes Haar, aber sonst ist er häßlich wie ein Säugling. Mit derselben knallroten Gesichtsfarbe. Wie dem auch sei, er kommt also mit seinem Wagen angebraust. >Du hast aber früh auf<, sagt er. Ich hab ihm erklärt, daß ich keineswegs schon geöffnet hätte, und machte Anstalten, nach drinnen zu verschwinden. Ich wollte gerade die Tür zuschlagen, als er seinen Fuß dazwischen klemmte. Ich erklärte ihm noch mal, daß das Lokal noch nicht geöffnet wäre, und versuchte, die Tür zu schließen. Aber er hielt seinen Fuß eisern dagegen. Dann stieß er mit einem Dolch in den offenen Spalt. Und als ob das allein nicht schon schlimm genug gewesen wäre, war der Dolch nicht glänzend und sauber - o nein. Die Klinge war blutverschmiert.«
»Rot oder schwarz?«
»Nicht mehr allzu frisch, aber auch noch nicht uralt. Das meiste Blut auf der Klinge war schon getrocknet, aber in der Mitte, wo es am dicksten war, war es noch ein wenig feucht und rot. So sehr ich mich auch anstrengte, ich kriegte die Tür nicht zu. Ich wollte laut um Hilfe rufen, aber meine Frau ist ängstlich, mein Sohn ist weg, meine Sklaven hätten keine Chance gegen Glaucia, und von wem sollte ich Hilfe erwarten...« Er warf einen schuldbewußten Blick zu dem alten Mann in der Ecke. »Also hab ich ihn reingelassen. Er wollte Wein pur, ohne Wasser. Ich brachte ihm einen Becher; er kippte ihn in einem Zug weg, warf ihn auf den Boden und verlangte eine ganze Flasche. Er saß genau da, wo du jetzt sitzt, und trank die ganze Flasche leer. Ich versuchte ein paarmal, den Raum zu verlassen, aber jedesmal wenn ich gehen wollte, fing er an, mit lauter Stimme mit mir zu reden, in einer Art und einem Ton, daß ich wußte, er wollte, daß ich blieb und ihm zuhörte.
Er hat gesagt, er käme direkt aus Rom und wäre erst nach Einbruch der Dunkelheit losgefahren. Er hat gesagt, er habe schreckliche Neuigkeiten. Und dann hat er mir erzählt, daß Sextus Roscius tot war. Ich hab mir nicht viel dabei gedacht. >Ein alter Mann<, sagte ich zu ihm, >War es das Herz?< Und Glaucia lachte. >Etwas in der Richtung<, sagte er. >Ein Messer im Herz, wenn du es genau wissen willst. < Und dann stach er mit der blutigen Klinge in diesen Tisch.«
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