Athelstan gehorchte nur zu gern. Er ignorierte Sir Ralphs Leichnam und schlug die Insignien des Hospitaliters und das Leintuch darunter beiseite. Mowbrays Gesicht wollte er nicht sehen; er kannte das Gesicht des Todes. Statt dessen untersuchte er die weißen, schorfigen Beine des Hospitaliters. Er nahm eine der Kerzen, um den bläulichgelben Bluterguß am rechten Bein des Toten unter dem Knie zu inspizieren. Befriedigt zog er das Leintuch wieder an seinen Platz, steckte die Talgkerze in den Halter, kniete kurz vor dem Allerheiligsten und ging zum Ausgang. Cranston folgte ihm, so schnell er konnte. Draußen blieben sie stehen und sogen gierig die erfrischende kalte Luft ein.
»Gütiger Gott, Sir John«, sagte Athelstan. »Ich dachte ja immer, St. Erconwald ist schlimm; aber wenn ich jemals wieder darüber jammere, müßt Ihr mich an diese Kirche erinnern, und ich halte den Mund.«
Cranston grinste. »Aber mit Vergnügen, Bruder. Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
»Ja, Sir John. Ich glaube, Sir Gérard wurde nicht von der Mauer heruntergestoßen, sondern jemand hat einen Speer oder ein Stück Holz oben über die Treppe gelegt, als der Hospitaliter am anderen Ende des Wehrganges auf seinem gewohnten Platz beim Salt Tower stand. Im Schutze der Dunkelheit wäre das möglich gewesen, wenn Sir Gérard in Gedanken versunken war.« Mit schmalen Augen schaute er zur fernen Mauer hinüber. »Die Sturmglocke ertönte. Mowbray lief den Wehrgang entlang. Im Dunkeln sah er das Hindernis nicht, stieß mit dem Bein dagegen, rutschte und stürzte in den Tod.«
»Aber wir wissen nicht, wer die Glocke geläutet oder die Stange über die Treppe gelegt hat«, sagte Cranston. »Du darfst nicht vergessen, daß außer Colebrooke und Fitzormonde alle bei Mistress Philippa waren.«
»Colebrooke könnte es getan haben«, meinte der Bruder. »Er könnte den Ritter oben an der Brustwehr gesehen, sich hinaufgeschlichen und die Stange hingelegt haben, um dann auf irgendeine Weise die Sturmglocke läuten zu lassen.«
»Aber wir haben keine Beweise.«
»Nein, Sir John, noch nicht. Aber wir tragen sie zusammen, Stück für Stück.« Athelstan seufzte. »Nur die Zeit wird zeigen, ob wir Erfolg haben.«
Sie fanden Colebrooke und die anderen in der Kapelle von St. John. Das Mißvergnügen über diese Versammlung war unübersehbar. Hammond drehte ihnen halb den Rücken zu. Fulke räkelte sich auf seinem Platz und schaute an die Decke. Rastani wirkte selbstbewußter; Athelstan sah den sarkastischen Spott in seinen dunkel funkelnden Augen. Colebrooke marschierte auf und ab wie bei einer Parade, und Mistress Philippa lehnte an der Wand und starrte betrübt auf das Tower Green hinunter.
»Wo ist Geoffrey?« fragte Athelstan.
»Geoffrey Parchmeiner«, antwortete Fulke, »mag ein ziemlich ängstlicher, törichter junger Mann sein, der viele Laster hat.« Der Ritter ignorierte den erbosten Blick seiner Nichte. »Aber er arbeitet schwer. Er hat Besseres zu tun, als im Tower herumzulungern und müßige Fragen zu beantworten, während brave Männer getötet werden und der Mörder ungeschoren herumspaziert.«
»Ich danke Euch für diese Rede, Sir Fulke«, versetzte Cranston und strahlte mit gespielter Freundlichkeit in die Runde. »Wir haben nur eine Frage - und ich muß mich bei Euch entschuldigen, Sir Brian -, aber es ist nur ein Name, weiter nichts. Bartholomew Burghgesh. Sagt das einem von Euch irgend etwas?«
Athelstan war verblüfft über die Verwandlung, die Cranstons Worte auslösten. Das Grinsen des Coroners wurde breiter. »Gut«, stellte er fest. »Jetzt haben wir Eure Aufmerksamkeit.« Er warf einen kurzen Blick auf den wütenden Hospitaliter. »Sir Brian, Ihr braucht nicht zu antworten, und wenn Ihr Geduld habt, werdet Ihr sehen, warum wir fragen. Nun?« Der Coroner klatschte in die Hände. »Bartholomew Burghgesh?«
»Bei den Zähnen der Hölle!« schnarrte Sir Fulke und trat in die Mitte des Raumes. »Treibt keinen Schabernack, Sir John. Burghgesh war ein Name, dessen Erwähnung mein Bruder, Sir Ralph, in seiner Gegenwart nicht geduldet hätte!«
»Warum nicht?« fragte Athelstan unschuldsvoll.
»Weil mein Bruder den Mann nicht ausstehen konnte.«
»Aber sie sind doch Waffenbrüder gewesen.«
»Gewesen«, betonte Sir Fulke. »In Outremer hatten sie einen Streit. Später kam Bartholomew ums Leben, als sein Schiff im Mittelmeer von maurischen Piraten gekapert wurde.«
»Warum?« fragte Cranston.
»Warum was?«
»Warum konnte Euer Bruder Burghgesh nicht ausstehen?« Fulke kam näher und senkte den Blick. »Es war eine Ehrensache«, sagte er leise, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute nervös Philippa an. »Sir Ralph hat Bartholomew einmal beschuldigt, er widme deiner Mutter, seiner Frau, zuviel Aufmerksamkeit.«
»Und traf diese Beschuldigung zu?« wollte Athelstan wissen. Fulkes Miene wurde milder. »Nein«, stammelte er. »Ich will ehrlich sein - ich mochte Bartholomew. Er war lustig und glaubte von allen immer nur das Beste. Er war sanftmütig und höflich.«
Athelstan spürte plötzlich die stählerne Härte in Sir Fulkes Charakter.
»Ihr hattet ihn wirklich gern, nicht wahr?«
»Ja. Ich war sehr betrübt, als ich von seinem Tod erfuhr.« Er scharrte mit den Füßen und schaute zu Boden. »Ehrlich gesagt«, fuhr er fort, »als ich jünger war, wünschte ich mir immer, Bartholomew wäre mein Bruder, weil ich - Gott verzeihe mir - Ralph nicht leiden konnte.« Er hob den Kopf, und sein Blick war traurig. »Vorjahren dienten er und Bartholomew hier im Tower als Offiziere.« Fulke hustete und räusperte sich. »Mein Bruder war heimtückisch. Er war grausam. Er hat Rothand schlecht behandelt. Er hat sogar den Priester hier geschlagen, als er noch ein junger Novize war.«
Der Kaplan errötete verlegen. »Los, sagt endlich die Wahrheit!« Fulke schaute wütend in die Runde und fletschte die Zähne wie ein Hund. »Sir Ralph war allen verhaßt!«
Kreideweiß vor Wut, trat Mistress Philippa vor. »Mein Vater liegt aufgebahrt und erwartet seine Beerdigung, und du sprichst so schlecht von ihm!«
»Gott verzeihe mir, Philippa, aber ich sage die Wahrheit!« Fulke streckte die Hand aus. »Frag Rastani! Wer hat ihm denn die Zunge herausgerissen, als er ein Junge war?«
Der Schwarze starrte ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das stimmt«, schaltete sich Fitzormonde ein. »Als es zum erstenmal böses Blut zwischen Burghgesh und Whitton gab, ging es um den Mohren.«
Fulke ließ sich auf die Bank fallen. »Ich habe genug gesagt«, seufzte er. »Aber ich habe diese Fragen satt. Philippa, dein Vater war ein Schweinehund, und niemand hier wird mir widersprechen.«
Cranston und Athelstan waren verblüfft über diesen unverhofften Ausbruch von Haß und Feindseligkeit. Du lieber Gott, dachte Athelstan: Jeder von ihnen konnte Sir Ralphs Mörder sein. Burghgesh war sehr beliebt gewesen. Hielt einer der Anwesenden sich für Gottes Henker, der den Tod des guten Mannes zu rächen hatte? Athelstan schaute in die Runde.
»Master Parchmeiner wird heute nicht kommen?« fragte er, die plötzliche Stille nutzend.
»Nein«, antwortete Sir Fulke müde. »Um Himmels willen, Pater, wer würde sich gern hier aufhalten? So viele Erinnerungen, so viel Haß.«
Mistress Philippa saß zusammengesunken auf einer Bank und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Sir Fulke ging zu ihr und tätschelte ihr leicht die Schulter. Cranston sah, daß Rastani spöttisch die Mundwinkel verzog. War er der Mörder? Der Coroner dachte an Athelstans Worte: Adam Hornes Mörder hatte eine Methode benutzt, mit der man in den maurischen Ländern den Leichnam eines Verbrechers und Verräters schändete.
»Wir haben genug gesehen«, flüsterte Athelstan. »Wir sollten jetzt gehen.«
»Eines noch«, sagte Cranston. »Ihr kennt den Kaufmann Adam Horne?«
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