»Die haben das Brot vergessen«, brummte Sir John.
Athelstan rief das Mädchen zurück, und sofort wurden kleine, frische, in Leintücher gewickelte Weißbrote herbeigebracht. Athelstan dachte über das Besprochene nach und wartete, bis Sir John seinen größten Hunger gestillt hatte.
»Eines haben wir übersehen«, sagte er dann.
»Nämlich?« mampfte Cranston mit vollem Mund.
»Nach dem Mord an Horne wissen wir, daß der Täter uns kennt. Weshalb hätte er Euch sonst eine so grausige Jagdtrophäe ins Haus geschickt?«
»Weil der Hund verrückt ist!«
»Nein, nein, Sir John. Es soll eine Warnung sein. Dieser Mörder bildet sich ein, Gottes Werk zu tun. Er schickt uns eine Botschaft: Haltet Euch zurück, bis meine Arbeit getan ist. Mischt Euch nicht ein.« Athelstan ließ den Löffel sinken. »Was für eine schreckliche Sache«, flüsterte er. »Einem Mann die Genitalien abzuhacken und sie dem abgetrennten Kopf in den Mund zu stopfen. Aber Fitzormonde hat so etwas erwähnt.«
»Was denn?«
»Nun, der Kalif von Ägypten habe jeden so bestraft, der gegen seinen Befehl verstieß - Kopf und Genitalien abgehackt und auf dem Stadttor von Alexandria zur Schau gestellt. Es liegt auf der Hand, Sir John«, fuhr er fort, »daß unser Mörder jemand sein muß, der in Outremer war, jemand, der über die Haschischoni Bescheid weiß - bedenkt den flachen Sesamkuchen und die schreckliche Art, den Leichnam eines hingerichteten Verbrechers zu demütigen.«
Cranston ließ seinen Dolch sinken. »Aber wer ist es, Bruder?«
»Ich weiß nicht, Sir John, aber ich glaube, wir sollten noch einmal in den Tower gehen und mit unseren Verdächtigen sprechen.«
»Und dann?«
»Dann gehen wir nach Woodforde.«
Cranston stöhnte.
»Sir John«, beharrte Athelstan, »es ist nicht weit - ein paar Meilen durch Aldgate, und dann die Mile End Road hinunter. Wir müssen herausfinden, ob Burghgesh je zurückgekehrt ist und was aus seinem Sohn geworden ist. Außerdem«, fügte er hinzu, »findet Ihr dabei vielleicht ein bißchen Zeit, um über Lady Maude nachzudenken.«
Cranston stieß seinen Dolch in ein Stück zartes Fleisch, willigte brummend ein und aß weiter, als hänge sein Leben davon ab.
Athelstan und Cranston beendeten ihre Mahlzeit und überquerten die London Bridge. Unter ihnen rauschte das Wasser schwarz und träge, und die Eisschollen krachten gegen die Verkleidungen, die die Holzpfeiler der Brücke vor dem Wüten der Themse schützen sollten. Sie kamen durch Billingsgate. Die Verkaufsstände verströmten heftigen Gestank; sie waren wieder frisch gefüllt mit Hering, Kabeljau, Schleie und sogar Hecht, denn auch die Flotte der Fischerboote hatte den Wetterumschwung genutzt.
Im Tower herrschte reges Treiben, als sie ankamen. Wie jeder gute Soldat ließ Colebrooke die Garnison arbeiten, um die durch den Frost ausgelöste Trägheit zu beenden und sich selbst von den Morden abzulenken. Der Lieutenant stand auf dem Tower Green und rief den Arbeitern, die die Steinschleudern, die Skorpione und die großen Rammen überholten, Befehle zu. Bogenschützen standen knöcheltief im Matsch und übten an den Zielscheiben; andere wurden von ihren Feldwebeln gnadenlos gedrillt. Athelstan entsann sich, Gerüchte gehört zu haben: Im Frühjahr würden die Franzosen vielleicht die Kanalhäfen angreifen und sich sogar die Themse heraufkämpfen, um die Stadt zu plündern und niederzubrennen.
Colebrookes Mißvergnügen, als er Cranston und Athelstan sah, war unübersehbar.
»Habt Ihr den Mörder gefunden?« schrie er.
»Nein, Master Lieutenant«, antwortete Cranston. »Aber wir werden ihn finden. Und wenn es soweit ist, könnt Ihr die Galgen bauen.«
Cranston trat beiseite, als ein Metzger und zwei Bogenschützen Fässer mit gepökeltem Schweinefleisch zum Vorratslager rollten. Der Coroner rümpfte die Nase. Trotz der starken Gewürze und der dicken weißen Salzschicht roch das Fleisch faulig, und er mußte würgen, als er Insekten über den Rand der Fässer krabbeln sah. Im stillen schwor er sich, kein Essen aus den Vorratskammern oder den Küchen des Tower anzunehmen. Colebrooke sah, daß seine Besucher sich nicht abschrecken ließen, wandte sich ab und erteilte ein paar Befehle. Athelstan nutzte den Moment, um zu dem Bären hinüberzuschleichen, der in seinem eigenen Kot hockte und einen Berg Unrat plünderte. Der verrückte Rothand saß da wie ein Kobold und betrachtete das Untier fasziniert.
»Du bist zufrieden, Rothand?« fragte Athelstan leise.
Der Mann zog eine Grimasse und wedelte mit den Händen, wie um den Bären zu imitieren. Athelstan kauerte sich neben ihn. »Magst du den Bären, Rothand?«
Der Bursche nickte, ohne den Bären aus den Augen zu lassen. »Der Ritter aber auch«, sagte er mit schwerer Zunge, und Athelstan roch Weingestank.
»Welcher Ritter?«
»Der mit dem Kreuz.«
»Du meinst Fitzormonde?«
»Ja, ja, Fitzormonde. Der kommt oft und gafft ihn an. Rothand mag Fitzormonde. Rothand mag auch den Bären. Den Colebrooke mag Rothand nicht. Colebrooke würde Rothand umbringen.«
»Mochtest du Burghgesh?« fragte Athelstan schnell, und er sah, daß die Augen des Irren aufleuchteten. »Du kanntest ihn«, fügte er hinzu. »Als junger Soldat hat er hier gedient.«
Rothand blickte weg.
»Du erinnerst dich doch?« drängte Athelstan.
Der Verrückte schüttelte den Kopf und starrte den Bären an, aber Athelstan sah, daß er mit den Tränen kämpfte. Der Ordensbruder erhob sich seufzend und klopfte sich das Eis von der Kutte.
»Bruder Athelstan!« schrie Cranston. »Master Colebrooke ist ein vielbeschäftigter Mann. Er sagt, er kann nicht den ganzen Tag warten, während du dich mit einem Verrückten unterhältst!«
»Master Colebrooke sollte begreifen«, erwiderte Athelstan, »daß es Ansichtssache ist und wohl auch dem Urteil Gottes unterliegt, wer verrückt ist und wer nicht.«
»Pater, es war ja nicht böse gemeint«, sagte Colebrooke; er nahm den kegelförmigen Helm ab und hielt ihn in den Armen. »Aber ich habe hier eine Garnison zu führen. Ich werde tun, was Ihr wollt.«
Athelstan lächelte. »Gut. Mowbrays Leichnam - wo liegt der?« Colebrooke deutete auf die Kapelle von St. Peter ad Vincula. »Vor dem Chorgitter. Morgen wird er auf dem Friedhof der Allerheiligenkirche begraben.«
»Ist er schon eingesargt?«
»Nein, nein.«
»Gut. Ich will die Leiche sehen, und danach würden Mylord Coroner und ich gern mit all denen sprechen, die von Sir Ralphs Tod berührt sind.«
Colebrooke stöhnte auf.
»Wir sind hier im Auftrag des Regenten«, betonte Athelstan.
»Wenn die Angelegenheit geklärt ist, werde ich in meinem Bericht auch die Unterstützung erwähnen, die wir bei unseren Ermittlungen bekommen oder nicht bekommen haben. Wir erwarten die Leute in der Kapelle von St. John.«
Colebrooke lächelte gezwungen und eilte davon; unterwegs befahl er einigen Soldaten, Sir Fulke und die anderen zu suchen. Cranston und Athelstan gingen zu St. Peter. Die Kirche war ein strenger, ernster Ort, kalt und klamm. Das Kirchenschiff war viereckig, und runde Säulen bewachten dunkle Seitengänge. Eine kleine Fensterrosette in der Giebelwand spendete Licht. Das Chorgitter war aus poliertem Eichenholz, und davor lagen, von Kerzen umgeben, die beiden Toten Sir Ralph Whitton und Sir Gérard Mowbray. Die Einbalsamierer hatten getan, was sie konnten, aber schon im Kirchenschiff drang Cranston und Athelstan der Geruch der Verwesung in die Nase.
Die beiden Leichname lagen unter Leintüchern auf geflochtenen Matten und Holzgestellen. Cranston blieb stehen und winkte Athelstan weiterzugehen.
»Ich habe zu fett gegessen, Bruder«, brummte er. »Sieh dir an, was du willst, und dann laß uns verschwinden.«
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