»Weh dieser Stadt!« schnarrte er. »Weh ihren korrupten Beamten! Weh jenen, denen sie dienen, die, in Seide gekleidet, sich faul auf den Kissen lümmeln und die Bäuche mit bestem Essen und schwerstem Wein füllen! Sie werden der Wut, die dakommt, nicht entrinnen. Wie können wir essen und trinken, wenn unsere armen Brüder und Schwestern hungern? Was werden sie uns dereinst antworten?«
Cranston trat wütend nach vom, aber Athelstan hielt ihn am Ärmel fest.
»Nicht jetzt, Sir John!«
»Wer ist das?« fauchte Cranston.
»Der Heckenpriester. John Ball. Ein großer Prediger«, flüsterte Athelstan. »Der Mann ist sehr beliebt. Dies ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort.«
Cranston holte tief Luft, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte weiter. Die flammende Rede des Predigers folgte ihnen bis zum Ordenshaus der Kreuzbrüder und weiter durch eine Gasse Richtung Tower.
»Eines Tages«, knirschte Cranston, »werde ich diesen Bastard hängen sehen!«
»Sir John, was er sagt, ist die Wahrheit.«
Der Coroner drehte sich um. Alle Wut wich, und sein Gesicht und sein Körper schienen zu schrumpfen.
»Was soll ich tun, Athelstan? Wie kann ich die Armen von Kent ernähren? Vielleicht esse ich zuviel, und sicher trinke ich zuviel, aber ich strebe nach Gerechtigkeit und tue, was ich kann.« Cranstons große dicke Hände flatterten wie die Flügel eines verletzten Vogels, und Athelstan sah den Schmerz in seinen Augen.
»In drei Teufels Namen, Bruder, ich habe ja nicht einmal meinen eigenen Haushalt im Griff.«
»Lady Maude?« fragte Athelstan.
Cranston nickte. »Ich fürchte, sie hat einen anderen kennengelernt. Vielleicht einen Stutzer vom Hofe.«
Athelstan starrte ihn ungläubig an.
»Lady Maude? Niemals! Sir John, Ihr seid verrückt!«
»Wenn jemand anderes das zu mir sagte, würde ich ihn umbringen.«
»Also ich sage es. Lady Maude ist eine ehrbare Frau, und sie liebt Euch von Herzen. Allerdings frage ich mich manchmal«, knurrte er erbost, »wie sie das schafft.« Er packte den dicken Coroner beim Mantel. »Welchen Beweis habt Ihr dafür?«
»Gestern abend habe ich sie über die London Bridge aus Southwark kommen sehen, aber als ich sie fragte, wo sie war, sagte sie: Nur bis zur Cheapside.«
Athelstan war im Begriff, knapp und wütend zu antworten, aber die Worte des Coroners erinnerten ihn: Eine Woche zuvor, kurz vor dem Fest der Heiligen Jungfrau, hatte er Lady Maude in der Nähe des Gasthauses in Southwark gesehen. Er hatte es merkwürdig gefunden, dann aber vergessen. Cranstons Augen wurden schmal.
»Du weißt etwas, nicht wahr, du verfluchter Mönch?« Athelstan wandte sich ab. »Ich bin ein Ordensbruder«, entgegnete er sanft. »Sir John, ich weiß nur, daß ich Euch und Lady Maude sehr schätze. Und ich weiß, daß sie Euch niemals betrügen würde.«
Cranston drängte an ihm vorbei. »Los!« bellte er. »Wir haben zu tun!«
Am Ende der Gasse angelangt, gingen sie den Hang hinauf und betraten den Tower durch eine Seitenpforte. Eine der Wachen nahm ihnen die Pferde ab und führte sie über das Tower Green, das jetzt knöcheltief von Schneematsch bedeckt war, zu Colebrooke, der sie niedergeschlagen erwartete.
»Wieder ein Toter« sagte er betrübt. »Sir John, ich wünschte, ich könnte sagen, Ihr seid mir willkommen.« Er schaute zum blauen Himmel hinauf, wo die Raben krächzten, und deutete in die Höhe. »Ihr kennt die Legenden, Sir John? Solange die Raben hier sind, wird der Tower nicht fallen. Und wenn sie so durchdringend krächzen, ist das immer ein Zeichen des nahenden Todes.« Colebrooke blies sich auf die Fingerspitzen. »Unglücklicherweise nimmt das Lied der Raben allmählich kein Ende mehr.«
»Wußte irgend jemand, daß Mowbray die gleiche Warnung erhalten hatte wie Sir Ralph?« fragte Cranston unvermittelt. Colebrooke schüttelte den Kopf. »Nein. Mowbray fühlte sich unbehaglich, aber nach Sir Ralphs Tod ging es uns allen so. Er und Sir Brian zogen sich zurück. Gestern nacht machte Mowbray seinen üblichen Spaziergang oben auf der Mauer zwischen dem Salt Tower und dem Broad Arrow Tower. Dort war er, als die Sturmglocke läutete. Anscheinend hörte er den Alarm, lief los, rutschte aus und stürzte zu Tode.«
»War niemand bei ihm auf dem Wehrgang?«
»Nein. Und wenn wir die Warnung nicht in seiner Tasche gefunden hätten, hätten wir das Ganze tatsächlich für einen simplen Unfall gehalten.«
»War es rutschig dort oben?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Sir John, Sir Ralph war äußerst streng in diesen Dingen. Sowie das Wetter sich verschlechtert, wird jede Stufe mit Sand oder Kies bestreut.«
»Und wer hat die Glocke geläutet?« fragte Athelstan.
»Das ist das Geheimnis. Kommt, ich zeig’s Euch.«
Sie gingen in die Mitte des Tower Green. Der Schnee war dort fast unberührt und türmte sich um einen mächtigen Holzpfahl, an dem ein waagerechter Balken angebracht war, wie bei einem Galgen. An einem eisernen Ring hing die Sturmglocke, und vom schweren Messingklöppel baumelte ein langes Seil.
»Seht Ihr«, sagte Colebrooke und zeigte auf die Glocke, »sie wird nur geläutet, wenn der Tower direkt angegriffen wird. Die Glocke ist so aufgehängt, daß sie, wenn man das Seil auch nur berührt, pausenlos läutet.«
Sir John schaute hoch und nickte weise. »Natürlich«, sagte er. »Solch einen Mechanismus habe ich schon mal gesehen. Auch wenn die Wache verwundet ist, braucht sie die Glocke nur in Gang zu setzen, und dann schwingt und läutet sie so lange, bis sie angehalten wird.«
»Genau!« sagte Colebrooke. »Und da liegt das Geheimnis. Ich selbst habe die Glocke angehalten. Es war niemand in der Nähe.«
»Aber jemand könnte sie geläutet haben und dann weggelaufen sein«, meinte Cranston.
Colebrooke schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ich kam mit einer Fackel heraus und brachte die Glocke zur Ruhe, aber als ich den Schnee untersuchte, fand ich weit und breit keine Fußspuren.«
»Wie?« fragte Cranston. »Überhaupt keine?«
»Keine einzige, Sir John.« Colebrooke deutete auf den Schneeteppich ringsum. »Weil diese Glocke so wichtig ist«, erklärte er, »darf niemand ihr nahe kommen. Sogar wenn die Soldaten betrunken sind, halten sie Abstand, damit sie nicht dagegen stolpern und die Glocke in Gang setzen.«
»Und es fand sich auch sonst nichts?«
»Nichts. Nur die Klauenspuren der Raben.«
»Aber das kann nicht sein«, meinte Athelstan.
Colebrooke seufzte. »Da bin ich ganz Eurer Meinung, Pater. Und die Sache wird noch geheimnisvoller, weil die Wachen, die rund um die Wiese patrouillierten, niemanden gesehen haben, der in die Nähe der Glocke gekommen wäre. Und es wurden keine Fußspuren gefunden.« Colebrooke wandte sich ab und spuckte aus. »Zeit zum Sterben«, klagte er. »Das Lied der Raben ist das einzige, das wir hören.«
»Und wo waren alle?« fragte Cranston.
»Oh, Mistress Philippa hatte uns alle zum Abendessen in den Beauchamp Tower eingeladen.«
»Alle?« wiederholte Athelstan.
»Naja, die beiden Hospitaliter hatten abgesagt. Rastani ist nicht gekommen, und ich war nicht ständig da, weil ich meinen Rundgang machen mußte. Ich war gerade wieder zu Mistress Philippas Gesellschaft zurückgekehrt, als die Glocke losging.«
»Und Ihr habt niemanden entdeckt?« Cranston blieb beharrlich.
»Niemanden«, bekräftigte Colebrooke. »Jetzt wird es den Soldaten unbehaglich. Sie führen düstere Reden von Dämonen und Gespenstern, und der Tower ist keine beliebte Garnison. Ihr kennt ja Soldaten, Sir John; sie sind schlimmer als Seeleute. Sie erzählen sich jetzt die alten Geschichten von der uralten Opferstätte, auf deren Überresten der Tower angeblich steht. Vom Blut, das in den Mörtel gemischt sei, und von den Leichen in den Fundamenten.«
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