»Wohin darf ich Euch führen?«, fragte Anton mit aufrichtiger Sorge in der Stimme. »Ich habe hier im Stalhof ein kleines Zimmer, aber es wäre nicht schicklich…«
»Bringt mich zu Anne Palmer. Ich zeige Euch den Weg dorthin.«
»Ich begleite Euch überall hin, wenn Ihr wollt.«
Als sie auf der Straße standen, sah Elisabeth ihren Retter von der Seite an. Ein plötzlicher Schatten legte sich über die Häuser, die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden.
»Meint Ihr das ernst?«, fragte sie. »Es könnte eine weite, gefährliche Reise werden.«
Es dauerte eine ganze Woche, bis Andreas sich erneut auf den Weg nach Melaten machen konnte. Denn Pfarrer Hülshout beäugte ihn argwöhnisch und achtete genau darauf, dass er alle Messen pünktlich las sowie seinen geistlichen Kindern die Beichte abnahm. Er musste alle Trauungen und Beerdigungen vornehmen und Hülshout, der wieder einmal wegen des neuen Altarbildes unterwegs war, beim Domkapitel vertreten. Außerdem zog ein zweiter Familiaris in das Pfarrhaus ein, der noch weniger von Latein und Theologie verstand als der erste. Jedes Mal, wenn sich Andreas aus dem Haus zu stehlen versuchte, kam etwas dazwischen. Es war wie verhext.
Immer wieder blätterte er nach Einbruch der Dunkelheit in dem Zauberbuch, immer wieder las er die Zeilen, die sich auf Melaten bezogen. Ob Heynrici sie geschrieben hatte? Es gab auf Melaten noch andere Männer, die in Frage kamen – der dortige Geistliche, weltliche Helfer, vielleicht sogar ein durchreisender Arzt, der an diesem Ort seine unheiligen Versuche angestellt haben mochte.
Eines Abends, beim Schein einer Kerze, hatte sich Andreas das Buch wieder vorgenommen. Er glaubte weniger denn je, dass Ludwig es besessen hatte. Bestimmt war es ihm untergeschoben worden – von seiner Frau. Wer sonst hätte die Gelegenheit dazu gehabt? Warum also sollte er noch einmal nach Melaten hinausreiten? Es wäre besser, wenn er sofort zu Barbara Leyendecker ging. Andreas legte das Buch aufs Bett, erhob sich und ging in der kleinen Kammer auf und ab. Draußen war von der Welt nichts mehr zu sehen; nur Teile seines Zimmers spiegelten sich in den Butzen des Fensters. Er sah sich, wie er ruhelos umherlief – ein bleicher Schatten seiner selbst. Überall sonst Dunkelheit, wie ein Gefängnis. Das Dunkle. Der dunkle Feind. Er warf einen Blick auf das »De Potestate«. Kurz überlegte er, ob er mit Pfarrer Hülshout über dieses Buch sprechen sollte, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Hülshout hatte große Angst vor dem Reich des Bösen und würde ein solches Buch unter seinem Dach nicht dulden. Andreas empfand ebenfalls Abscheu davor, doch vielleicht konnte es ihm den Weg zu Ludwigs Mörder ebnen. »Heiligt der Zweck die Mittel?«, dachte er. Durfte er sich des Bösen bedienen, um zum Guten zu gelangen? Das Buch zog ihn magisch an.
Drei Tage später ergab sich endlich die Gelegenheit, die Pfarrei zu verlassen. Hülshout musste eine Reise nach Bonn antreten, und es gelang Andreas, einen der Mönche aus dem Kreuzbrüderkloster zur Messvertretung zu überreden. Schon früh am Morgen brach er auf; er hatte sich einen der Apfelschimmel aus dem Pfarrstall ausgeliehen, um möglichst schnell zu sein.
Er ritt durch dieselben Straßen, in denen er den Dieb verfolgt hatte, und dachte über dieses seltsame Erlebnis nach. Er glaubte nicht, dass der Dieb es zufällig auf sein Buch abgesehen hatte, auch wenn der Diebstahl des Spiegels eher auf das Gegenteil schließen ließ. Langsam ritt Andreas durch die überfüllten Straßen, vorbei an herrschaftlichen Häusern mit Zinnen und Erkern in der Breiten Straße, dann durch die engere Ehrenstraße mit ihren kleinen, windschiefen Fachwerkbauten, von denen einige schon so alt waren, dass sich ihre Balken bedenklich bogen, bis er in der Ferne die beiden massigen, aus grobem Stein gemauerten Rundtürme der Ehrenpforte aufragen sah. Immer wieder fasste er sich an den Gürtel, an den er das kleine, in einem Beutel steckende Zauberbuch gehängt hatte. Es war ihm schwer wie Blei.
Er ritt auf das große Wagentor in der Mitte zu und wurde nicht angehalten. Sein Priesterrock war wie ein Passierschein, zumindest, wenn es zur Stadt hinausging. Nun war er schon zum zweiten Mal seit kurzer Zeit auf dem Weg nach Westen. Er dachte daran, wie er zusammen mit Elisabeth nach Melaten geritten war. Wo mochte sie gerade sein? Ob sie in London etwas herausgefunden hatte? Vielleicht hatte sie in Erfahrung bringen können, was Ludwig dort bemerkt und erlebt hatte, und vielleicht stand dieses Zauberbuch gar nicht in Zusammenhang mit seinem Tod. Doch Andreas war es lieber, diese vage Spur zu verfolgen, als untätig zu bleiben. Er hatte sich entschlossen, mit Heynrici über das Buch zu sprechen.
Und über den Teufel.
Am Tor an der Straße nach Aachen zügelte er sein Pferd, saß ab und klopfte. Wehmütig schaute er nach Westen. Dort hinten, irgendwo, war Elisabeth. Er sehnte sich nach ihr – mehr, als für ihn gut war, wie er feststellte. Doch sofort schob er diesen Gedanken beiseite.
Derselbe Pförtner öffnete ihm; er erkannte Andreas sogar. »Wieder zu Herrn Ulrich, unserem heiligmäßigen Küster?«, fragte er. Andreas nickte. Der Pförtner führte ihn abermals zu dem kleinen Häuschen hinter der Kirche. Der Geistliche sah sich verstohlen um. Diesmal ließ sich kein Aussätziger blicken. Er erinnerte sich an den schrecklichen Schrei, den er und Elisabeth in jener Nacht gehört hatten, die sie hier hatten verbringen müssen. Und er erinnerte sich daran, dass er kurz zuvor Heynrici im Innenhof hatte umherschleichen sehen.
Beim letzten Mal war Andreas so aufgeregt gewesen, dass er der riesigen alten Linde rechts neben dem Küsterhaus keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, doch jetzt drang das dunkle Rauschen des großartigen Baumes deutlich und beruhigend in sein Bewusstsein. Im leichten Wind knarrten die Äste. Der Pförtner klopfte für Andreas, und bald wurde die Tür langsam aufgezogen. Das Erste, was Andreas sah, war das schlohweiße Haar: der Kranz um den Kopf und der wellige, weiche, wie aus sich selbst heraus leuchtende Bart. Der Pförtner ging.
»Ich freue mich, dass Ihr mich wieder besuchen kommt. Wo habt Ihr denn Eure zauberhafte Begleiterin gelassen? Bringt Ihr mir Neuigkeiten über die Todesumstände von Ludwig Leyendecker?«, fragte Heynrici mit seiner sanften, melodischen Stimme. Andreas war froh, hergekommen zu sein. Hier war er richtig. Hier wurde er verstanden.
Heynrici bot ihm einen Stuhl an und setzte sich ihm gegenüber. Andreas sah auf die beeindruckende Anzahl von Büchern und kam sofort zur Sache. Er holte das Buch an seinem Gürtel hervor, band es los und reichte es Heynrici. Dieser schlug es auf, lächelte weise und klappte es sofort wieder zu. »Warum zeigt Ihr mir das?«, fragte er.
»Es hat angeblich Ludwig Leyendecker gehört«, erklärte Andreas.
»Das wundert mich sehr«, bekannte Heynrici und legte die Hände zu einem Dach zusammen. »Ich habe Euch schon bei Eurem letzten Besuch gesagt, dass ich mir Euren Freund nicht als Zaubermeister vorstellen kann. Habt Ihr übrigens herausgefunden, was Ludwig bei seinem Aufenthalt in London erfahren hat? Das scheint mir sehr viel wichtiger zu sein.«
»Seine Schwester ist nach London gefahren, um genau das herauszufinden«, meinte Andreas und sah den alten Mann neugierig an. »Um was könnte es sich dabei handeln?«
»Er scheint etwas belauscht zu haben«, sagte Heynrici. »Aber das habe ich Euch ja schon damals gesagt. Und es war sicherlich keine Zusammenkunft von Teufelsbündlern.«
Andreas dachte daran, dass Elisabeth nun mitten in der Höhle des Löwen war. Wenn es stimmte, was Heynrici mutmaßte, befand sie sich möglicherweise in Gefahr. Ihm wurde ganz anders zumute. Aber vielleicht hatte Heynrici Unrecht. Man musste jeder Spur nachgehen. Andreas lenkte das Gespräch wieder auf die magische Handschrift. »Ich finde dieses Buch bemerkenswert«, sagte er und deutete auf die kleine Handschrift in Heynricis Händen.
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