Der eigentliche Ablauf der Andacht war für Fidelma befremdlich. Sie hatte geglaubt, in der berühmten Abtei einige der Riten und Gepflogenheiten, mit denen sie von Haus aus vertraut war, zu erleben. Schließlich war es Columbanus gewesen, der die Abtei begründet hatte, und sie war davon ausgegangen, dass er sich an die Gepflogenheiten gehalten hatte, die ihm von den Fünf Königreichen her vertraut waren. Doch schon bald wurde sie daran erinnert, dass er es mehr mit dem Bußsakrament hielt. Von den Regeln und Vorschriften ihres eigenen Landes war keine Spur. Außerdem hatte ja Magister Ado davon gesprochen, dass die Abtei sich den Benediktinischen Regeln angeschlossen hatte.
Auch andere Unterschiede wurden deutlich. So stand der Abt beim Zelebrieren des Gottesdienstes vor dem Altar und nicht dahinter, und die Liturgie wurde in dem zu der Zeit geläufigen Latein abgehalten und nicht in Griechisch, der ursprünglichen Sprache der Evangelien. Weiterhin war auffällig, dass der Abt eine Mitra aufhatte, einen zeremoniellen Kopfschmuck, dessen Name sich aus dem Griechischen herleitete und den man in den Kirchen in Hibernia nicht trug. Dort setzten sich Äbte und Bischöfe Kronen auf, wenngleich auch sie einen Hirtenstab, die cambutta, trugen. Später erfuhr sie von Schwester Gisa, dass Papst Theodor vor vielen Jahren die Äbte von Bobium als Bischöfe anerkannt und ihnen so unter den Kirchenführern zu Macht verholfen hatte. Kein Wunder also, dass Abt Servillius für das selbstherrliche Auftreten von Bischof Britmund nur Verachtung zeigte.
In den meisten Kirchen und Abteien Hibernias wurde die Messe nicht täglich gelesen, im Allgemeinen nur sonntags, und auch dann eher zum Tagesanbruch als zu einer anderen Zeit. All diese Dinge gingen Fidelma durch den Kopf, und je mehr sie darüber nachdachte, desto fremder fühlte sie sich – eine Fremde in einem fremden Land. Sie vermisste jegliche Zugehörigkeit; noch nie war sie sich so verloren vorgekommen, selbst im Königreich der Angeln nicht oder in der Zeit, als sie in Rom war. Natürlich empfand man immer ein gewisses Heimweh, aber das hier war etwas anderes, es versetzte sie in eine düstere Stimmung, und sie wünschte sich fort von hier.
Überrascht gestand sie sich ein, dass ihr Bruder Eadulf, der angelsächsische Mönch, fehlte, sein Sinn für Humor und seine stets sachdienlichen Kommentare. Mit einem leisen Lächeln dachte sie daran, wie er sich gegen das »angelsächsisch« wehren würde; er hielt sich für einen aus dem Stamm der Angeln und nicht der Sachsen, kam er doch aus dem Land des Südvolks aus Seaxmund’s Ham. In ihren Augen waren beide, die Angeln und die Sachsen, Sasanach, eben Sachsen. Für Eadulf hingegen war es ein Unterschied, und er wies immer darauf hin, dass die verschiedenen Königreiche, die auf der britannischen Insel entstanden waren, just von diesen Unterschieden geprägt waren und dass Angeln und Sachsen sich oft genug kriegerisch gegenüberstanden.
Fidelma wollte es nicht gelingen, das befremdliche Gefühl des Isoliertseins abzuschütteln. Erst die Worte des Abts »Ite, missa est« , die das Ende der abendlichen Andacht verkündeten, rissen sie aus ihren Träumereien.
Zusammen mit Schwester Gisa verließ sie die Kapelle. Sie kamen an Bischof Britmund und Bruder Godomar, seinem Gefährten, vorbei. Die schwarzen Murmelaugen des Bischofs hefteten sich auf sie, doch wie sie merkte, galt der strenge Blick mehr Schwester Gisa als ihr. Das Mädchen fing auch gleich an zu zittern und sagte nur rasch: »Verzeih, Schwester Fidelma, aber auf mich warten noch Pflichten. Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Und schon drehte sie sich um, eilte über den Hof und verschwand durch die Tore der Abtei. Der Bischof aber hatte bereits den Ehrwürdigen Ionas abgefangen, und man hörte sie nicht gerade freundlich miteinander reden. Aus dem ungehaltenen Ton schlussfolgerte Fidelma, dass das Streitgespräch seinen Fortgang nahm.
Langsam wurde ihr klar, dass mit dem Moment, da sie die Abtei betreten hatte, immer die unterschwellige Drohung von Unheil gegenwärtig war, ohne dass sie sie auf irgendetwas Konkretes hätte zurückführen können. In ihrer Tätigkeit als dálaigh, Anwältin bei den Gerichten der Fünf Königreiche, war sie oft genug Bösem begegnet, nie aber hatte sich ihrer ein so banges Gefühl bemächtigt wie hier. Durch beharrliches Wirken in der Rechtspflege hatte sie den Titel eines anruth erworben, den zweithöchsten Grad, den weltliche und geistliche Hohe Schulen in Irland vergeben konnten, und hatte es in dieser Eigenschaft mit bizarren Morden und Verbrechen zu tun gehabt, die sie immer hatte aufklären können, wenn auch manchmal unter lebensbedrohlichen Umständen. Acht Jahre lang hatte sie in Tara an der Schule von Brehon Morann studiert, und nichts hatte sie mehr beglückt, als mit der Klärung mysteriöser Vorgänge betraut zu werden. Aber jetzt – jetzt war sie sich unsicher, wo das Unheilvolle lauerte und zu suchen war. Drohte aus der bloßen Existenz zweier Lager, die sich nicht einigen konnten, ob Gott als Wesenseinheit oder Dreieinigkeit zu verstehen sei, tatsächlich Gewalt?
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so bewegte sie die Frage als solche nicht gerade leidenschaftlich, wie es ihr auch ähnlich mit ihrer Haltung zur Religion ging. Wirkliche Leidenschaft hegte Fidelma für Recht und Gesetz, für die Prinzipien der Gerechtigkeit. Weshalb war sie dann überhaupt Nonne geworden? Sie hätte einfach die Tochter von Failbe Flann, König von Muman, sein können, doch ihr Vater starb, als sie noch ein kleines Kind war, und die Königswürde war ihrem Vetter zugesprochen worden. In ihrem Land ergab sich das Königtum sowohl aus der Wahl als auch aus der Blutsverwandtschaft des vorangegangenen Königs. Das erklärte, warum Colgú, ihr Bruder, zunächst gesetzlicher Thronnachfolger und nicht König war. Deshalb hatte sie sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen und ihre Begabungen dem Rechtswesen zu widmen; ein Amt von ihrem Vetter zu erbitten, war für sie nicht in Frage gekommen.
Ein älterer Vetter, Laisran, Abt von Darú, hatte ihr nahegelegt, in die Abtei Cill Dara, die Abtei der heiligen Brigit, einzutreten, wie es viele, die höhere Bildung genossen hatten, damals taten. Die Gemeinschaft dort brauchte einen Rechtskundigen. Sie war dem Rat gefolgt und hatte es gar bald bereut. Nicht lange, und sie verließ die Abtei und übernahm Aufträge für die Kirchenoberen der Fünf Königreiche, die sich gern ihrer Talente bedienten. Der letzte Auftrag hatte sie nach Rom geführt, wo sie für eine Abteiregel die Zustimmung des Heiligen Vaters einholen sollte. Von dort hatte es sie hierher nach Bobium verschlagen. Bei ihren Reisen hatte sie vor allem auf dem Konzil der Angeln in Streonshalh erlebt, mit welcher Erbitterung in Glaubensdingen gestritten wurde. Dort hatte es zwischen Anhängern der Regeln von Rom und denen, die die Regel von Colm Cille beibehalten wollten, eine heftige Debatte gegeben. Dort war sie auch zum ersten Mal Eadulf begegnet.
Sie presste die Lippen zusammen. Warum kam ihr eigentlich immer wieder Eadulf in den Sinn? Er bekannte sich zu den Regeln von Rom. Im Grunde genommen störte sie das nicht, auch wenn sie in einem anderen Glauben aufgewachsen war. Doch irgendwie ließ ihr die Sache keine Ruhe. Wer in dem Glaubensstreit nun recht hatte oder nicht, berührte sie weniger. Die einen glaubten halt an den alleinigen Gott, der den Sohn und den Heiligen Geist erschuf, und die anderen glaubten an die Dreieinigkeit Gottes. Bitteschön, warum nicht? Wegen unterschiedlicher Auffassungen musste man sich nicht gegenseitig umbringen.
Sie fing plötzlich an zu frieren. Es war spät geworden, und sie hatte, völlig in Gedanken versunken, im Hof auf einer Steinbank gesessen. Fast ein wenig schuldbewusst schaute sie sich um. Man hatte etliche Fackeln angezündet, um den Hof zu erhellen, aber der war menschenleer. Sie hatte doch eigentlich Bruder Ruadán aufsuchen wollen. Würde sie den Weg zu seinem Krankenlager wiederfinden? Wahrscheinlich nur von ihrer eigenen Kammer aus.
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