Seit sie auf der Farm waren, hatte sie kaum mit ihnen gesprochen, selbst wenn sie in einem Korb das Essen zur Scheune brachte. Er dachte über ihr Verhalten nach. Von Anfang an war es nicht besonders entgegenkommend gewesen. Für sie musste ihr Aufenthalt hier eine Zumutung sein. Aber er hatte den Eindruck, das wäre auch nicht anders, wenn sie Engländer wären. Die anderen, die ihnen geholfen hatten - der Schäfer, der Wirt, der Kapitän und der Totengräber -, waren alle wesentlich weniger zurückhaltend gewesen; vielleicht lag es daran, dass sie alle ihr Einkommen irgendwie außerhalb des Gesetzes verdienten, und auch wenn sie die Obrigkeit nicht direkt hassten, so hatten sie ihr gegenüber doch ein ziemlich gespaltenes Verhältnis. Wie Gideon, der Kapitän, richtig gesagt hatte, waren sie nichts anderes als zwei weitere Stück Schmuggelware.
Aber warum sollte eine Frau sich bereiterklären, Feinden bei der Flucht in die Heimat zu helfen? Ihrem Gespräch mit dem Totengräber hatte er entnommen, dass sie gegen ihren Willen Schmuggelware versteckt hielt.
Er fragte sich, wer dieser Morgan war. Die Fässer, die sie erwähnte, ließen darauf schließen, dass er zum Schmugglerring gehörte, aber wo stand er in der Hierarchie? War er wichtig, oder war er nur jemand, der die Sachen weiterreichte?
Auf jeden Fall war Ludds Überzeugung, dass Schmuggler den geflohenen Gefangenen halfen, richtig gewesen. Aber selbst Ludd hätte nie geahnt, wie viel Planung dahinterstand und wie gut alles organisiert war. Offenbar steckten ein paar sehr kluge Köpfe dahinter. Aber wer waren die?
Hawkwood griff nach seinem Hemd und der Hose. Sie waren schon trocken, und er zog sich an, Lasseur ebenfalls.
»Ich bin gespannt, was als Nächstes passiert«, sagte Lasseur, als er seine Stiefel anzog. »Was glaubst du, wie lange wir hier bleiben werden?«
»Es könnte schon eine Weile dauern. Die Briten haben den Ärmel ziemlich fest zugenäht mit ihrer Blockade.« Der Ausdruck ging ihm mühelos über die Lippen, obwohl Hawkwood nicht verstehen konnte, warum die Franzosen den Kanal ausgerechnet nach einem Kleidungsstück benannt hatten.
»Aber die Schmuggler kommen und gehen anscheinend, wie sie wollen«, gab Lasseur zu bedenken.
»Wahrscheinlich gibt es härtere Strafen für das Befördern von Flüchtlingen«, meinte Hawkwood. »Es kommt dem Hochverrat gefährlich nahe. Das würden sie nicht riskieren, wenn es nicht ganz sicher wäre.«
Ein körperlich gesunder Seemann, der beim Aufbringen eines Schmuggelschiffes gefasst wurde, wurde in die Navy gepresst. Die Strafe für das Befördern geflohener Gefangener war Deportation, möglicherweise für immer. Kein Schmuggler würde es riskieren, mit geflohenen Gefangenen über den Kanal zu fahren, wenn er nicht fest damit rechnen konnte, dass alles glattginge.
Lasseur nickte düster.
»Mach nicht so ein trübes Gesicht«, sagte Hawkwood. »Wir sind erst zwei Tage hier. Überall ist es doch besser als auf dem stinkenden Schiff.«
Lasseur zog an seiner Zigarre. Dann schlug er Hawkwood auf die Schulter. »Du hast Recht, mein Freund. Wir haben frische Luft, den Himmel über uns und einigermaßen saubere Hemden am Leib. Wenn ich jetzt noch auf meinem Schiff wäre, wäre das Leben fast perfekt.«
Hawkwood schloss die Augen und ließ sich von der Nachmittagssone bescheinen.
»Ich habe von Lucien geträumt«, sagte Lasseur.
Hawkwood sah ihn an.
Er wusste, dass es etwas war, was Lasseur beschäftigte. Der Franzose war in der Nacht ziemlich unruhig gewesen. Hawkwood hatte es gemerkt, weil auch er schlecht geschlafen hatte, und es war ihm aufgefallen, wie Lasseur sich in den frühen Morgenstunden unruhig auf seinem Lager gewälzt hatte.
»Er musste mit ansehen, wie sein Vater starb«, sagte Lasseur. »Das war auch der Grund, warum er allein war. Er war Schiffsjunge auf dem Schiff seines Vaters, und sie wurden von einem englischen Kutter überrascht. Sie zogen die Segel ein, aber aus irgendeinem Grund wollte der Kutterkapitän sich wohl einen Spaß machen. Er richtete die Kanonen auf sie und machte Kleinholz aus dem Schiff. Luciens Vater wurde von einem Splitter getötet, ein Mitglied der Besatzung ging mit dem Schiff unter. Der andere wurde gefangen genommen, aber sie wurden getrennt. Ich nehme an, er wurde auf ein anderes Gefängnisschiff gebracht.« Lasseur schwieg, dann sagte er: »Wenn wir uns nicht eingemischt hätten, wäre er noch am Leben.«
»Als Spielzeug für Matisse und seine Bande«, sagte Hawkwood. »Die hätten ihn missbraucht, und wenn der nächste hübsche Junge gekommen wäre, hätten sie sich seiner entledigt.«
»Er hatte es nicht verdient, zu sterben.«
»Nein, das stimmt. Aber wir haben ihn nicht umgebracht.«
Lasseur seufzte. »Und denkst du, das entbindet uns von der Verantwortung? Ich glaube nicht. Weißt du, ich habe mal ein Sprichwort gehört: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Ich glaube, bis jetzt hatte ich nicht wirklich verstanden, was das heißt.« Er sah Hawkwood an, seine Augen waren feucht geworden. »Ich vermisse meinen Sohn, Matthew. Ich möchte nach Hause und ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass ich ihn liebe. Dieser verfluchte Krieg …«
»Kriege fangen nicht von allein an«, sagte Hawkwood. »Wenn du jemandem die Schuld geben willst, gib sie diesen verfluchten Politikern.«
»Und wem gegenüber sind die verantwortlich? Gott? Ich bin mir nicht mal sicher, ob der überhaupt noch existiert.« Mit einer frustrierten Handbewegung stand Lasseur auf und steckte die Zigarre wieder in die Tasche. »Ach, Schluss jetzt. Ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen. Ich mache einen kleinen Spaziergang. Und ehe du etwas sagst: Keine Angst, ich laufe schon nicht weg. Ich gehe nicht weiter als bis zum Wald, damit bleibe ich auf dem Farmgelände.« Er klopfte Hawkwood auf die Schulter. »Du bist ein guter Freund, Matthew Hooper. Ich bin froh, dass wir zusammen sind.«
Hawkwood antwortete nicht. Er sah, wie Lasseur mit gesenktem Kopf davonging. Es war unvermeidlich, dass Lasseur als Vater unter dem Mord an dem Jungen stärker litt. Er dachte über seine eigene Reaktion auf Lucien Ballards Tod nach. Er war wütend gewesen, aber im Gegensatz zu Lasseur hatte er keine Schuldgefühle gehabt. Er fragte sich, was das über ihn selbst aussagte. Hawkwood hatte die Verantwortung, Vater zu werden, immer abgelehnt. Konnte er damit leben? Ja, konnte er. Er wunderte sich, warum er sich überhaupt diese Frage stellte, besonders wo es so viele weitaus wichtigere Dinge gab, die zu klären waren. Zum Beispiel, wie er es bewerkstelligen könnte, Bow Street eine Nachricht zu schicken.
Doch was für eine Nachricht hatte er eigentlich für James Read? Ludd würde inzwischen wissen, dass er vom Schiff entkommen war. Er wusste, dass Hawkwood auf der Flucht war. Und viel weiter reichte Hawkwoods eigenes Wissen auch nicht. Er wusste immer noch nicht, wer hinter dieser organisierten Fluchthilfe stand. Solange er das nicht wusste, musste er die Täuschung aufrechterhalten und abwarten, wohin es ihn führte. Mit etwas Glück und Geschick würde er vielleicht in Kürze dahinterkommen.
Lasseur stellte bei seinem Spaziergang fest, dass es auf der Farm eine ganze Reihe von Dingen gab, die Aufmerksamkeit erforderten. In den Wänden der Scheune klafften Lücken. Eine Ecke des Kuhstalls war baufällig. Es gab Torpfosten, die ersetzt werden mussten, das Gras auf der Wiese musste gemäht werden und einige der Bäume hätten auch beschnitten werden müssen. Es waren Kleinigkeiten, aber von der Farm seiner Schwiegereltern wusste er, dass Kleinigkeiten, wenn sie nicht rechtzeitig behoben wurden, sich schnell zu größeren Problemen auswachsen konnten. Es war genau wie auf einem Schiff.
Die Frau hatte ihnen gesagt, es gebe einen Mann, der ihr half, aber bisher hatte der sich nicht gezeigt. Lasseur sah zum Haus hinüber und bemerkte den großen Holzstoß bei der Hintertür und daneben die Axt, die in einem großen Hackklotz steckte, daneben lehnte ein Reisigbesen. Ritten Hexen nicht auf Reisigbesen? Lasseur grinste.
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