Lasseur starrte ihn an.
»Keine Angst. Dort sind Sie ganz sicher. Es ist sehr belebt, dort wickeln viele Händler ihre Geschäfte ab. Es ist wie auf dem Fischmarkt von Billingsgate: Fischer, Krabbenfänger, Träger, Frauen, die Fische ausnehmen - solche Leute. Niemand wird sich um Sie kümmern. Wenn Sie an Land sind, halten Sie auf die Kirche zu. Dort werden Sie einen Totengräber treffen, er heißt Asa Higgs. Mit Sonnenaufgang ist er da. Er wird sich um Sie kümmern. Sie können ihn nicht verwechseln, ihm fehlt der Mittelfinger der rechten Hand.« Wie um es zu verdeutlichen, hielt Gideon den entsprechenden Finger hoch. »Haben Sie das alles verstanden?«
Lasseur nickte zögernd.
»Ja«, sagte Hawkwood.
»Großartig.« Gideon rieb sich die Hände. »Es ist eine schöne Nacht. Etwas windig, aber Sie haben warme Jacken und meinen besten Brandy. Sie werden nicht frieren.«
»Und die Bewegung wird uns guttun«, sagte Hawkwood.
Gideon grinste. »Das sehen Sie ganz richtig!«
Die Plattform war größer, als Hawkwood erwartet hatte; es gab Anlegestellen für mehrere Boote. Die dicken Pfähle waren von Algen und Muscheln verkrustet und die Anlage sah aus, als sei sie schon seit Jahrhunderten hier - was vielleicht sogar stimmte, auch wenn man den einen oder anderen Stützbalken erneuert hatte. Auf jeden Fall machte sie einen sehr soliden Eindruck, als sie darauf standen. Auf der Plattform waren offene Unterstände und lange Reihen von Holztischen, neben denen Körbe aufgestapelt waren.
»Am besten nehmen Sie die auch mit«, sagte Gideon. »Können Sie Fische ausnehmen?«
Ehe Hawkwood und Lasseur etwas erwidern konnten, reichte jemand ihnen zwei Körbe mit Makrelen und zwei lange, spitze Messer über die Reling.
»Sie sind nicht gerade fangfrisch, aber wenn die ersten Leute hier ankommen, sei es mit Booten oder aus dem Ort, dann ist es besser, wenn Sie arbeiten. Man wird denken, dass Sie Frühaufsteher sind, was ja auch stimmt. Damit vermeiden Sie, mit den Leuten reden zu müssen. Sie werden ins Bild passen, es wird aussehen, als gehörten Sie dazu. Falls jemand versuchen sollte, mit Ihnen ein Gespräch anzufangen, sagen Sie, Sie seien belgische Fischer. Die kommen manchmal hierher, auf der Suche nach Austern. Und nicht vergessen: Asa Higgs, und ihm fehlt ein Finger!« Er winkte ihnen ein letztes Mal zu.
Sie sahen, wie das Schiff in der Dunkelheit verschwand. Dann machte Hawkwood eine Bestandsaufnahme. Die Lichter der Stadt sahen einladend aus, schienen aber noch immer ziemlich weit weg. Im Mondlicht sahen sie, dass das Wasser noch viel weiter zurückweichen musste, ehe die Ebbe die Plattform erreicht hatte. Hawkwood fragte sich, wann die ersten Fischerboote ankommen würden, um hier zu entladen. Nicht vor dem ersten Tageslicht, vermutete er, aber auch das würde früh genug sein.
Der Wind vom Wasser her war wirklich kalt, und er war dankbar, dass er die Jacke hatte. Er sprach auch ein stummes Dankgebet dafür, dass Ludd nicht mitten im Winter auf die Idee gekommen war, Bow Street um Hilfe zu bitten.
Lasseur nahm einen Schluck aus der Brandyflasche und reichte sie ihm.
»Wieder etwas, worüber meine Mannschaft sich vor Lachen in die Hose machen wird«, sagte er trübsinnig.
»Was denn?«
»Wenn ich ihnen erzähle, dass ich ausgesetzt worden bin.«
Hawkwood schüttelte den Kopf und setzte die Flasche an die Lippen. »Das ist doch nicht dasselbe.«
»Nein?«
»Ich habe gehört, Ausgesetzten gibt man eine geladene Pistole mit, falls es unerträglich wird.«
»Verdammt«, sagte Lasseur. »Danach hätten wir fragen sollen.«
»Wir müssen uns halt hiermit begnügen«, sagte Hawkwood und reichte ihm die Flasche.
»Machen wir langsam damit«, sagte Lasseur und betrachtete die Fische und die Messer. »Die Nacht könnte noch lang sein.«
Die Farm lag inmitten von Wäldern. Sie hatte nichts Außergewöhnliches an sich; ein Farmhaus, halb aus Feldsteinen, halb aus Ziegeln gebaut, zwei Außengebäude, eine Scheune, ein Hühnerstall, ein Schweinestall, ein Pferch mit sechs Schafen, von einem Holzzaun umgeben, und eine Koppel, auf der ruhig und zufrieden zwei Pferde grasten. Auf einer Seite des Hauses lag ein Obstgarten, dahinter war ein gepflegter Nutzgarten, in dem Gemüse und Kräuter wuchsen. Vor dem Haus lag eine Wiese voller Wildblumen, durch die sich ein kleiner Bach schlängelte.
Als sie sich der Farm näherten, kam es Hawkwood vor, als sei es einer der friedlichsten Orte, die er jemals gesehen hatte. Sie lag auch bestens verborgen. Die Einheimischen kannten sich natürlich hier aus, aber ein Fremder hätte dieses Tal nur durch Zufall gefunden. Er nahm an, dass die Farm deshalb hier lag. Als Versteck war sie ideal.
Die Körbe mit den Makrelen auf der Schulter, hatten sie die Fischereiplattform kurz vor Sonnenaufgang verlassen, als gerade die ersten Boote und die Frühaufsteher unter den Stadtbewohnern ankamen. Unter diesen waren viele Frauen, deren Hauptvergnügen darin bestand, jeden Mann, der auch nur in Rufweite war, mit zweideutigen Bemerkungen zu bedenken. Außer dieser derben, aber nicht böse gemeinten Neckerei hatten Lasseur und Hawkwood die anderthalb Meilen über den Schlick ohne Zwischenfälle hinter sich gebracht.
Die Kirche war fünf Minuten vom Strand entfernt. Sie hatten den Totengräber sofort gesehen, einen kleinen Mann mit nussbraunem Gesicht, krummen Beinen und drei Fingern und Daumen an der rechten Hand, der, nachdenklich seine Tonpfeife rauchend, sein neuestes Werk betrachtete.
Er hatte hochgesehen und Hawkwoods und Lasseurs unrasierte Gesichter und schlammbedeckte Stiefel mit spöttischem Blick gemustert. »Sie werden die beiden Franzosen sein, die ich erwarte.«
Lasseur nickte. Hawkwood widersprach nicht. Es war einfacher, als sich erneut anhören zu müssen, dass er weit von zu Hause weg sei.
»Sie sprechen Englisch? In Ordnung, kommen Sie mit. Den Fisch lassen Sie am besten da.«
Er ging voran und verließ den Friedhof. Nicht weit davon entfernt standen angebunden Pferd und Wagen, und der Totengräber deutete auf den hinteren Teil des Wagens, auf dem sich zwei einfache Holzsärge befanden, die teilweise mit Säcken bedeckt waren.
»Normalerweise würden wir bei Nacht fahren, wenn weniger Leute unterwegs sind, aber ich glaube, es wäre nicht gut, wenn Sie den ganzen Tag hier rumhängen müssten. Am besten machen wir uns gleich auf den Weg. Es wird ganz bequem sein, und zunageln werde ich auch nicht. Sie müssen nicht lange drinnen bleiben. Ich lasse Sie raus, sobald wir von der Straße runter sind.« Er machte eine kurze Kopfbewegung. »Also bitte, steigen Sie ein.«
Hawkwood und Lasseur tauschten ungläubige Blicke. Hawkwood überlegte, ob Lasseur wirklich alles verstanden hatte, was der Totengräber gesagt hatte. Nicht dass es etwas geändert hätte. Sie waren beide einfach zu müde, um lange zu diskutieren. Und der Totengräber hatte Recht behalten. Es war eine ganz bequeme Art, zu reisen. Hawkwood wäre mehrmals beinahe eingenickt.
Sie waren längst wieder aus den Särgen heraus und saßen auf dem hinteren Ende des Wagens, wo sie die Beine baumeln ließen, als sie den Wald verließen und das Farmhaus sahen, das in einer Senke vor ihnen lag.
Der Totengräber schnalzte mit der Zunge und trieb die Pferde an. »Willkommen bei der Witwe.«
Lasseur runzelte die Stirn, während Hawkwood das Haus betrachtete, aus dessen Schornstein durchsichtiger Holzrauch stieg. Wer immer dieses Feuer angezündet hatte, hatte Apfelholz genommen. Der Geruch war unverkennbar und seltsam tröstlich und erinnerte Hawkwood an den Herbst.
»So wird sie hier genannt.« Nach einer kleinen Pause sagte Asa: »Unter anderem.«
»Wie denn noch?«, fragte Lasseur.
»Hier gibt es Leute, die sie für eine Hexe halten.«
Lasseur sah Hawkwood an und sagte auf Französisch: »Er sagt, hier wohnt eine Hexe.«
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