»Vielleicht lässt sie uns ja verschwinden«, sagte Hawkwood ebenfalls auf Französisch. »Und wir wachen auf und sind in Frankreich.«
Er überlegte, wie er James Read das wohl erklären würde.
Ich weiß jetzt, wie sie es machen, Sir. Sie werden in Leichensäcken vom Schiff geschmuggelt, dann werden sie zu dieser alten Frau mit den Warzen und der schwarzen Katze gebracht, und die verwandelt sie in Amseln und sie fliegen nach Hause .
Es gab keine Katze hier, aber es gab einen Hund. Er lag vor der offenen Scheune. Als der Wagen sich näherte, stand er auf und sah ihnen entgegen. Dann kam er zögernd angetrabt. Es war ein großer Hund, mit zotteligem braunem Fell, das ihm über die Augen fiel. Hawkwood sah, dass er nicht mehr jung war. Er war grau um die Schnauze, und er ging wie ein alter Mann mit leichtem Rheuma. Er wedelte kurz zur Begrüßung, bellte einmal und legte sich dann wieder hin, als hätte ihn das alles ziemlich erschöpft.
Das Bellen war weniger eine Warnung gewesen als ein Ruf. Eine Frau mit einem Eimer kam aus der Scheune. Hawkwoods erster Gedanke war, dass sie nicht so aussah, wie er sich eine Hexe vorgestellt hatte.
Er hörte, wie Lasseur leise den Atem anhielt.
Die schlanke Frau hatte dichtes dunkles Haar, das im Nacken von einem Band zusammengehalten wurde, dunkle braune Augen und ein energisches, von der Sonne gebräuntes Gesicht. Sie trug einen langen grauen Rock, eine weiße Bluse, die am Hals offen stand, und eine ausgebleichte blaue Weste. Die Kleider waren ausgebessert und hatten verschiedene Flicken. Der offene Kragen der Bluse ließ ein V-förmiges Stück sommersprossiger Haut frei, und auf der rechten Wange hatte sie einen Schmutzfleck. Über ihre linke Wange hing eine lose Haarsträhne bis zum Mundwinkel, und die Frau strich sie aus dem Gesicht und hinter ihr Ohr. Auf ihrer Oberlippe glänzte ein leichter Schweißfilm.
Sie sah dem Gefährt entgegen.
Der Wagen hielt.
»Morgen, Jess.«
Der Totengräber tippte an seine Mütze.
»Morgen, Asa.«
Die Frau beschattete ihre Augen mit der Hand und machte keine Anstalten, näher zu kommen.
»Du hast uns erwartet.« Der Totengräber bedeutete Hawkwood und Lasseur, vom Wagen zu steigen.
Die Frau sah die beiden Männer von oben bis unten an und schwieg.
Hawkwood wusste, wie sie beide aussahen: schmuddelig und unrasiert, Hose und Stiefel von Schlamm verkrustet und noch immer nass von ihrem Abenteuer im Wasser.
»Madame«, sagte Lasseur mit einer angedeuteten Verbeugung.
Sie sah ihn aufmerksam an, reagierte aber nicht auf seine Geste. Ihr Blick wanderte zu Hawkwood, verweilte einen kurzen Augenblick und wandte sich dann wieder an den Totengräber.
»Für wie lange ist es?«
»Das hat man mir nicht gesagt.«
Die Frau sah leicht irritiert aus, aber der Ausdruck verflog wieder. Sie nickte resigniert. »Sprechen die beiden Englisch?«
»Wir können beide Englisch, Madame.« Lasseur lächelte. »Ich heiße Lasseur; Captain Paul Lasseur. Dies ist mein Freund, Captain Matthew Hooper.«
Die Frau sah ihn an, erwiderte sein Lächeln aber nicht. Sie starrte Hawkwood an, dann wandte sie sich an den Totengräber, der Hawkwood merkwürdig ansah. »Sag Morgan, die Fässer sind immer noch hier. Mir wäre es lieber, wenn sie weg wären.«
»Das weiß er. Ich hole sie in ein bis zwei Tagen ab.«
»Gut.«
Der Totengräber nickte. »Ja, da sind sie also. Ich muss jetzt zurück.«
»Wie geht’s Megan?«, fragte die Frau.
Higgs kletterte auf den Wagen. »Der geht’s viel besser. Der Zaubertrank, den du mir gegeben hast, hat Wunder gewirkt.«
Die Frau seufzte leicht genervt. »Es war kein Zaubertrank, Asa. Nur ein Auszug aus Kräutern. Die könntest du in deinem Garten auch haben, wenn du wolltest.«
Higgs schüttelte hastig den Kopf. »Oh Gott, nein. Darauf will ich’s nicht ankommen lassen. Wenn ich das täte, würde sie mich nicht mehr aus dem Haus lassen.« Er grinste.
Die Frau lächelte. Plötzlich war ihr Gesicht wie verwandelt. Sie war schön, dachte Hawkwood. »Ich habe Holunderblütensaft, davon könntest du Megan etwas mitnehmen.«
»Wenn das ein Angebot ist …«
»Warte.« Die Frau stellte den Eimer hin und ging ins Haus.
Der Hund beobachtete sie durch die Zottelhaare und überlegte, ob er ihr folgen oder hier Wache halten sollte. Schließlich entschied er, dass Wachsamkeit den Fremden gegenüber etwas weniger Anstrengung für ihn bedeutete.
Die Frau kam mit einem kleinen Steinkrug zurück, den sie dem Totengräber gab. Der stellte den Krug zwischen seine Füße, ergriff die Zügel, nickte Hawkwood und Lasseur kurz zu und fuhr mit einem Schnalzen los. Sie sahen ihm nach, wie er zwischen den Bäumen verschwand.
Die Frau drehte sich um. »Hier lang. Kommen Sie mit.« Sie ging voran zur Scheune. Der Hund stand auf und folgte ihnen langsam und schwerfällig.
In der Scheune war es kühl. Es gab einen Getreidekasten und zwei Boxen, in dem einen stand eine Milchkuh. Es roch nach frischem Dung und Hühnern. Einige Hühner suchten nach Körnern.
»Hier ist es trocken und es ist viel Platz. Ich glaube, Sie werden es ganz bequem haben.«
Sie führte sie in eine Ecke. An der Wand waren Strohballen aufgeschichtet. Sie ergriff einen der unteren Ballen und zog ihn vor, worauf eine dunkle Öffnung zum Vorschein kam. In dem Raum dahinter sah Hawkwood einen Eimer und ein paar Tonnen, die an der Wand standen. »Wenn jemand kommt, müssen Sie sich hier verstecken.« Sie zeigte auf den Hund. »Das ist Rab. Er wird alt, aber er ist ein guter Kerl und warnt mich, wenn Fremde kommen.«
Der Hund wedelte, als er seinen Namen hörte.
»Ich habe jemanden, der kommt und mir hilft. Ein Mann namens Thomas. Sie werden ihn leicht erkennen, denn er hinkt und hat hier eine Narbe.« Die Frau fuhr mit dem Finger über ihr rechtes Auge und die Wange. »Vor dem brauchen Sie sich nicht zu verstecken.« Während sie sprach, betrachtete sie die Narben auf Hawkwoods Gesicht. »Sie heißen Hooper, ist das richtig?«
»Das ist richtig.«
»Sind Sie Engländer?«
»Amerikaner.«
Sie betrachtete ihn einige Sekunden, dann nickte sie stumm. Sie sagte: »Wenn ich soweit bin, bringe ich Ihnen etwas zu essen und zu trinken.«
»Danke«, sagte Lasseur, ernüchtert von ihrem kompromisslosen Blick. »Wie sollen wir Sie anreden?«
»Madame.«
Sie wandte sich um, ehe sie etwas erwidern konnten, und ging mit entschlossenem Schritt ins Haus, der Hund dicht hinter ihr. Im Vorbeigehen nahm sie den Eimer mit.
Die Männer sahen hinter ihr her.
Lasseur sah Hawkwood an und grinste. »Ich glaube, sie mag mich.«
Hawkwood hatte die Augen geschlossen. Es war merkwürdig, dachte er, dass er noch immer den Geruch des Hulk in der Nase hatte. Die Vernunft sagte ihm, dass der Gestank des Gefängnisschiffs unmöglich bis hierher getragen werden könne, und doch hätte er schwören können, er war da, ein ekelerregendes Phantom, das seine Geruchsnerven belästigte.
Obwohl er wusste, dass es lächerlich war, öffnete er die Augen, um sich zu überzeugen, dass er nicht wieder auf dem Geschützdeck war. Er sah die Wiese, den Bach und die umliegenden Wälder und empfand ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung. Er saß auf einem Holzklotz, den Rücken an die Scheunenwand gelehnt.
Er prüfte schnüffelnd die Luft. Seine Nackenhaare sträubten sich. Im selben Moment wusste er, dass es keine Einbildung war. Dieser Gestank war tatsächlich da, und seine Ursache lag näher, als er vermutet hatte. Es war seine eigene Ausdünstung, die er roch. Er trug den Makel des Hulk noch immer mit sich herum. Er hing in seinen Kleidern, und auch sein Schweiß roch danach. Er hielt seinen Ärmel an die Nase und zuckte angewidert zurück. Er konnte sogar die Makrelen riechen. Kein Wunder, dass der Totengräber sie am anderen Ende des Wagens hatte sitzen lassen; und kein Wunder, dass die Frau sie so misstrauisch angesehen und ihnen zu verstehen gegeben hatte, sie sollten sich vom Haus fernhalten. Die Frage ging ihm durch den Kopf, ob das wohl auch der Grund war, warum alle so darauf bedacht gewesen waren, sie möglichst schnell an den Nächsten weiterzureichen? Weil jeder ihrer Fluchthelfer den Gestank nur für eine kurze Zeit aushalten konnte? Mit einem Ruck setzte er sich auf.
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