Juvert erhob sich auf die Knie und zuckte zusammen. Seinem kreideweißen Gesicht war anzusehen, dass er die drohende Nuance in der Stimme seines Meisters bemerkt hatte. Er sah aus wie ein Mann, der versucht, sich zwischen Angriff und Rückzug zu entscheiden, obwohl er genau wusste, dass er wenig Sympathie zu erwarten hatte, egal was er machen würde.
Matisse machte eine kurze Bewegung mit seinem kahlen Kopf. »Bringt ihn weg.«
Juvert hatte keine Gelegenheit mehr, zu protestieren. Er wurde kurzerhand auf die Füße gestellt und hatte kaum noch Zeit, Hawkwood und Lasseur über die Schulter einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe er hinter dem Vorhang verschwand. Niemand schien sein Abtreten zu bedauern. Von draußen kam ein kurzes, halbersticktes Gurgeln, dann hörte man, wie etwas weggezerrt wurde. Dann war es still.
Matisse lehnte sich zurück. Er machte einen ganz ruhigen Eindruck, wie ein Mann, der mit sich und der Welt zufrieden ist. Seine Spinnenfinger spielten mit dem Haar im Nacken des Jungen. »Sie verzeihen, wenn wir nicht aufstehen. Wir sind keinen Besuch gewohnt. Übrigens entschuldige ich mich für die unzureichende Beleuchtung. Meine Augen haben eine Aversion gegen das Licht; besonders Tageslicht. Selbst Kerzenlicht verursacht mir einiges Unbehagen. Ein unbequemes Leiden, aber ich habe mich daran gewöhnt.«
Die Worte bestätigten Hawkwoods Vermutung. Das erklärte auch die Fetzen, mit denen man die Fenster zugehängt hatte.
»Wir scheißen auf Ihre Gesundheit«, sagte Lasseur kurz. »Wir sind wegen des Jungen hier.«
Die Männer um den Tisch erstarrten. Der rasierte Kopf neigte sich leicht. Lucien Ballard saß reglos da; er war starr vor Angst. Die Hand in seinem Nacken hatte aufgehört, sich zu bewegen, ließ ihn aber nicht los.
Eine nervöse Spannung erfasste Hawkwood.
»Er gehört nicht hierher«, sagte Lasseur.
»Tatsächlich? Und wer sagt das?«
Die Finger fingen wieder an, zu streicheln. Es erinnerte Hawkwood an das Streicheln einer Katze. Doch Lucien Ballard schnurrte nicht. Er wirkte wie hypnotisiert.
»Ich hatte Juvert gewarnt, sich nicht wieder zu zeigen«, sagte Lasseur. »Er hat sich mir widersetzt - auf Ihren Befehl.«
Die Hand des Korsen stand wieder still. Mit einem scharfen Ruck hob er den Kopf.
»Er hat sich wider- setzt? Sie haben Juvert keine Befehle zu erteilen, Captain Lasseur. Er ist mein Abgesandter. Falls Sie es vergessen haben, Sie sind hier nicht auf Ihrem Geschützdeck. Dies ist meine Domäne. Sie sind hier ein Eindringling.«
»Da hat Commander Hellard vielleicht noch ein Wort mitzureden«, sagte Hawkwood leise. Es war nicht nur der Blick des Mannes, der einen verwirrte, merkte er jetzt. Matisse schien auch kaum die Lider zu bewegen.
»Hellard?«, sagte der Kahlköpfige verächtlich. »Hellard ist ein Schlappschwanz. Der ist doch nur dem Namen nach Commander. Hier regiere ich, nicht er.«
» König Matisse?«, sagte Hawkwood, und fragte sich, ob das der Grund gewesen war, weshalb Hellard keinen Befehl zum Schießen gegeben hatte.
Die rosa Augen waren direkt auf Hawkwood gerichtet. Es war ein beunruhigendes Gefühl. Er hatte den Eindruck - soweit man es nach dem bisherigen Gespräch beurteilen konnte -, dass hinter dieser grotesken Fassade eine gefährliche Intelligenz am Werke war.
»So nennen mich einige, obwohl ich mich, ehrlich gesagt, gar nicht erinnern kann, wie das anfing. Manche würden es wohl für übertrieben halten, aber warum sollte ich es verbieten? Es erfüllt seinen Zweck, denn es hilft, den Pöbel in Schach zu halten.«
Seine Worte klangen verächtlich. Hawkwood fragte sich, ob mit dem »Pöbel« auch die Männer gemeint waren, die hier mit ihm saßen, und wie diese wohl darüber dachten. Doch es schien, als hätte niemand es übel genommen. Vielleicht wussten sie auch nicht, wen er gemeint hatte, oder sie dachten, es beziehe sich auf den Rest der Rafalés.
Ein dünnes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Glatzkopfs. »Ich persönlich sehe mich eher als einen Pastor, einen Hirten, der sich um das Wohlergehen seiner Herde kümmert.« Seine Finger beschäftigten sich wieder mit dem Kragen des Jungen.
Nicht schon wieder , ging es Hawkwood durch den Kopf, während es ihm kalt über den Rücken lief. Von Pastoren und Predigern habe ich seit dem letzten Mal noch genug .
Vielleicht war das auch der Grund, warum Matisse schwarz gekleidet war: um diese Illusion zu festigen; vielleicht aber auch, um auf unheimliche Art seine geisterhafte Gesichtsfarbe zu unterstreichen und damit noch markanter zu wirken. Mattisses Erscheinung war tatsächlich der eines Pfarrers sehr ähnlich. Sie wies keine überflüssigen Verzierungen oder sonstigen Putz auf, bis auf eines: einen winzigen tränenförmigen Anhänger, der manchmal im Laternenschein aufblitzte. Es war eine Perle an seinem linken Ohrläppchen.
Lasseur knurrte: »Zum letzten Mal. Geben Sie den Jungen raus.«
Matisse drehte den Kopf und der Ohrring schaukelte. »Wissen Sie, als Juvert mir erzählte, dass Sie sich für ihn interessierten - ich muss gestehen, dass ich da ziemlich überrascht war. Was sollten wir davon halten? Vielleicht wollten Sie ihn für sich, Captain Lasseur, sind Sie deshalb hier?«
»Ich bin hier, damit ihm nichts passiert.«
»Passiert?« Matisse nahm die Hand vom Nacken des Jungen und legte sie aufs Herz. Seine Fingernägel waren lang und verfärbt, die Spitzen scharf wie Krallen. »Sie denken, ich würde einem Kind etwas antun? Wie können Sie so etwas sagen? Ich bin tief verletzt, Captain.«
»Versuchen Sie keine Spielchen mit mir«, sagte Lasseur.
»Spielchen?«
»Fouchet hat uns gewarnt.«
»Ach ja, der Lehrer. Und genau wovor hat er Sie gewarnt?«
»Er hat uns vor Ihnen gewarnt«, sagte Lasseur. Vor Ekel klang seine Stimme rau, als hätte er Kies im Hals. »Er erzählte uns von den anderen.«
»Andere?«
»Die anderen Jungen, die Sie hier unten hatten.«
»In der Tat?« Der Korse spitzte die Lippen. »Dieser alte
Mann wird in letzter Zeit ziemlich streitsüchtig. Den muss ich mir mal vorknöpfen.« Er hob sein madenweißes Gesicht. »Er muss in seine Schranken verwiesen werden.«
»Also bestreiten Sie es nicht?«
»Warum sollte ich?« Matisse tätschelte dem Jungen die Wange und drehte Lucien Ballards Gesicht zu sich hin. Die Unterlippe des Jungen fing an zu zittern. »Haben Sie schon jemals etwas so Reines gesehen?«
»Er ist ein Kind.«
»Ja, das ist er. Ein süßes Kind, aber bei Ihnen klingt das alles so schmutzig, Captain. Denken Sie denn, wir seien alle Jünger Sodoms? Ich versichere Ihnen, größer könnte Ihr Irrtum gar nicht sein. Wenn wir nicht hier in diesem elenden Schiff eingeschlossen wären, glauben Sie denn, dass wir diese Unterredung überhaupt hätten? Wir sind weit von der Heimat, von unseren Frauen und unseren Liebsten. Was soll ein Mann denn machen? Wir sehnen uns doch nur nach ein bisschen Zärtlichkeit. Das ist doch nichts Schlimmes, oder? Ein Mann ist nicht dafür geschaffen, allein zu sein. Als Mann hat man seine Bedürfnisse. Was ist so schlimm daran, wenn man Freundschaft und Zuneigung sucht, um diese dunkle Zeit zu bewältigen? Wollen Sie uns das streitig machen? Wer sind Sie, darüber zu befinden?«
» Zuneigung? «
»Ja, Zuneigung. Sag’s ihnen, Junge. Erzähl’s dem Captain. Hat Matisse dir wehgetan? Nein. Sehen Sie? Nicht ein Haar habe ich ihm gekrümmt. Er ist vollkommen sicher bei mir.«
»Sicher?« Lasseur starrte Matisse an. »Sie wollen ihn doch mit ins Bett nehmen und zu einem Ihrer Lustknaben machen! Sie würden ihn hier unter dem übrigen schwulen Abschaum herumreichen - und das nennen Sie sicher ?«
Stühle wurden zurückgeschoben. Die Männer am Tisch scharten sich um ihren Anführer.
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