Vorratsfässer, einschließlich der Wassertonnen, standen im Kies aufgestapelt; die größeren, die mehr Gewicht aushielten, zuunterst. Man hatte Keile daruntergeschoben, damit sie gerade standen.
In diesem Laderaum herrschte ein Durcheinander von starken Gerüchen: von Flüssigkeiten, die aus den Fässern ausgetreten waren, von brackigem Wasser und verdorbenen Nahrungsmitteln, vermischt mit dem Geruch von Tauen und Teer. Es gab noch andere starke Duftnoten, aber der Hauch von Essig und Schwefel, ein Überbleibsel vom letzten Mal, als der Laderaum ausgeräuchert worden war, konnte gegen den Rattengestank nicht viel ausrichten. Bei dem reich gedeckten Tisch, den sie hier vorfanden, hatten sich die Nager stark vermehrt und alle Furcht verloren. Der aufgewirbelte Staub aus ihrem Kot lag in der Luft wie die Sporen einer Pusteblume und drang einem in die Kehle, und bei jeder Bewegung nahm man aus dem Augenwinkel das kurze Aufleuchten eines glatten, seidigen Fells wahr, wenn die Tiere sich vor dem Lichtschein der näher kommenden Laternen davonmachten.
»Oben sind die Ladeluken dicht«, sagte Matisse. »Die nächsten Lieferungen kommen erst morgen früh. Wir sind ganz unter uns.«
Auf sein Signal hin wurden die Laternen an die Balken gehängt. Als das Kerzenlicht heller wurde, griff Matisse in eine Innentasche und zog eine Brille hervor. Sorgfältig setzte er sie auf und machte viel Aufhebens darum, die Bügel hinter den Ohren zu sichern. Sofort war sein Gesicht wie verwandelt, denn die Gläser waren rund und dunkel und passten in der Größe genau in seine Augenhöhlen. Wenn man das blasse Gesicht von vorn sah, hatte es jetzt eine unheimliche und furchterregende Ähnlichkeit mit einem Totenschädel.
»Wenn Sie soweit sind, Dupin!«, sagte Matisse. Er sah Hawkwood an. »Ich muss mich entschuldigen, Captain, aber wir sind mit Pistolen und Degen etwas knapp dran. Wir mussten uns selbst helfen, wie Sie gleich sehen werden.«
Lasseur runzelte die Stirn.
Hawkwood sah auf die flach geklopften Fassreifen der Männer. Ein unbehagliches Gefühl ergriff ihn.
Dupin trat in den Ring.
»Auffangen«, sagte er.
Hawkwood hatte kaum Zeit zu reagieren. Erst beim Auffangen sah er, was es war. Es sah aus wie einer der Stöcke, die neulich beim Fechtunterricht benutzt worden waren, jedoch mit einem Zusatz: das Ende des Stocks war durch ein offenes Rasiermesser verlängert, das mit Schnur dort befestigt war.
»Was soll das denn sein?«, wollte Lasseur wissen.
Matisse legte den Kopf schräg. Die Brillengläser wirkten in seinem Gesicht wie schwarze Löcher. »Was hatten Sie sich denn unter einem ›Gottesurteil‹ vorgestellt, Captain? Einen Boxkampf?«
»Das britische Gesetz verbietet Duelle«, sagte Hawkwood. »Selbst auf Gefängnisschiffen.«
»Das britische Gesetz spielt hier keine Rolle, Captain. Wir haben unsere eigenen Gesetze - Matisses Gesetze.«
Hawkwood sah seine Waffe an. Sie war bemerkenswert leicht und fast so biegsam wie ein Florett. Die sechs Zoll lange Klinge blitzte im Laternenschein.
Matisse grinste. »Etwas primitiv vielleicht, aber in den richtigen Händen kann es sehr wirksam sein. Die Idee ist von Korporal Sarazin dort drüben. Als er auf Cabrera gefangen war, wurden dort Auseinandersetzungen damit entschieden.«
Hawkwood erkannte den Namen. Cabrera war eine winzige Insel, zehn Meilen südlich von Mallorca. Nach allem, was er darüber gehört hatte, schien die Rapacious ein Paradies zu sein. Nach dem Sieg über die Franzosen bei Baylen war es notorisch geworden, als der Comte de l’Etang sein gesamtes Corps von achtzehntausend Mann den Spaniern ausgeliefert hatte. Die höheren Offiziere waren in ihre Heimat abgeschoben worden. Die anderen wurden erst auf die Gefängnisschiffe vor Cadiz gebracht, später auf die Insel. Einige wurden später nach England verlegt. Hawkwood kam der Gedanke, dass die Gefangenen, die die Besatzung der Vengeance im Hafen von Portsmouth im Boot ausgesetzt hatte, vielleicht zu ihnen gehörten.
»Sarazin war auch eine Zeit lang in Millbay. Dort nahm man Zirkelspitzen statt Klingen, aber die fanden wir nicht so wirksam. Davon gibt’s auch nicht viele. Das liegt vermutlich am Geometrie- und Navigationsunterricht, den Ihr Freund Fouchet erteilt.« Der Korse kicherte leise.
Hawkwood starrte erst die Klinge an, dann Matisse. »Und wenn ich nicht kämpfen will?«, fragte er.
»Dann haben Sie Ihren Einsatz verspielt. Der Junge bleibt bei uns. Sein Schicksal liegt in Ihrer Hand, Captain.«
»Und wenn ich gewinne, geben Sie den Jungen dann her?«
»Ich habe es ja gesagt: Wenn das der Fall ist, lasse ich den Jungen frei. Sie haben mein Wort.«
»Wie sind die Regeln?«
»Es gibt keine Regeln«, sagte Matisse.
Einige der Männer lachten.
Lasseur zog die Brauen zusammen. »Wodurch wird der Kampf dann entschieden? Dass einer von beiden blutet?«
»Nein, dass einer von beiden aufhört zu atmen.«
Im Lagerraum wurde es still. Nur das Ächzen der Balken war zu hören.
Aus Lasseurs Gesicht war alles Blut gewichen. »Das ist doch Wahnsinn!«
»Überhaupt nicht, das ist unsere Art, hier für Ordnung zu sorgen. Ordnung muss sein. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr? Sie sind Soldaten. Sie verstehen, dass Disziplin notwendig ist. Ohne Disziplin wäre hier das Chaos. Das geht nicht, es würde ja alles in Unordnung bringen.«
»Nein!«, sagte Lasseur. »Das können Sie nicht machen!« Er warf Hawkwood einen verzweifelten Blick zu.
»Oh, doch, das kann ich. Hier unten kann ich alles machen, was ich will.«
Er sah Hawkwood an. Es war eine offene Herausforderung.
In Hawkwoods Kopf meldete sich eine kleine Stimme. Jetzt kannst du noch weg!
»Dann gehen Sie wenigstens mit dem Jungen nach draußen«, sagte Hawkwood. »Das braucht er doch nicht zu sehen.«
Matisse schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich denke, es wird ihm sehr guttun. Seine erste Bluttat. Es wird einen Mann aus ihm machen. Wenn Kemel Bey seine Aufgabe erfolgreich löst, dann könnte das auch zum ersten Mal ganz andere Freuden für ihn bedeuten.« Matisse lachte leise in sich hinein und drückte die Schultern des Jungen. »Wie steht’s mit Ihrem Latein, Captain? Sie scheinen ein gebildeter Mann zu sein. Kennen Sie den Ausdruck: Jus primae noctis? Das heißt das Gesetz der ersten Nacht. Auf Französisch nennen wir es Das Recht des Herren . Mein Recht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich darauf freue. Unsere Abendunterhaltung ist in letzter Zeit schrecklich langweilig gewesen. Deshalb freuen wir uns immer über Neuankömmlinge. Das gibt uns die Gelegenheit, neue … Freunde kennenzulernen.«
Hinter Dupin bewegte sich etwas. Die stickige Luft knisterte vor Spannung, als der Mameluck sich aus dem Kreis der Männer löste und in den Lichtschein trat. Er hatte seine Jacke ausgezogen. Sein Oberkörper war nackt. Nur mit seiner Pluderhose bekleidet, stand er still und stumm wie eine Statue, seine Arme hingen locker herunter. Er sah weder nach links noch nach rechts.
Lasseur beugte sich vor und flüsterte nervös: »Bitte, sagen Sie mir, dass Sie mit ihm fertigwerden können.«
Hawkwood betrachtete den Mamelucken. Er fragte sich, was dem Mann durch den Kopf gehen mochte. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, seine Augen zeigten keinerlei Furcht und auch sonst sah man kein Anzeichen dafür, dass der Mann das Gespräch gehört oder gar verstanden hatte. Hawkwood hatte einmal einen Roboter gesehen, eine wundersame mechanische Erfindung, die ein kleines, perfekt gebautes Männchen in Gestalt eines Türken darstellte. Mittels eines klugen Systems aus Hebeln, Stangen und Schnüren war der Roboter zum Leben erwacht, er verschränkte die Arme und nickte mit dem Kopf, er konnte sogar eine kleine Wasserpfeife rauchen. Kemel Bey sah aus wie eine lebensgroße Version dieses Spielzeugs, eine mechanische Puppe, die auf ihr Kommando wartete.
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