Als er einen Blick auf das dämmerige Deck warf, erkannte er grob gezimmerte Bänke und Reihen von Schlafpritschen. Viele der Männer, die dort lagen, waren nackt. Sie lagen dicht aneinandergedrängt wie Löffel in einer Schublade, ihre Haut war leichengrau. Andere, die noch Reste von Kleidung anhatten, erinnerten an Vogelscheuchen, während diejenigen, die ihre Decken wie Togen trugen, eher Nachtfaltern ähnelten, die vor dem dunklen Hintergrund verschwanden oder um die flackernden Kerzen herumhockten, wo sie mit spinnendürren Fingern Karten spielten.
Hawkwood, dem das Hemd am Körper klebte, fing an, die nackten Männer zu beneiden. Es wurde immer schwerer, hier zu atmen. Nun verstand er auch das leise Klappern von vorhin, und es ärgerte ihn, nicht gleich erkannt zu haben, dass es sich um hölzerne und knöcherne Würfel handelte, die über eine Tischplatte rollten. Selbst nackt und halbverhungert waren die Rafalés noch immer damit beschäftigt, ihr Leben mit Glücksspielen zu verbringen. Trotz der Dunkelheit konnte man ihre wilden Gesichter sehen, die sich um jede kleinste Kerzenflamme drängten. Jeder Wurf wurde mit aufgeregtem Geschrei oder irrem Gelächter quittiert. Es war, als ginge man durch die Korridore eines Irrenhauses.
Köpfe drehten sich nach den Eindringlingen um. Auf einigen Gesichtern lag unverhohlene Feindseligkeit. Andere schienen sich eher zu fürchten, weil man ihren Bereich betreten hatte. Einige der Männer auf den Schlafpritschen, die sich inmitten dieses Elends einen winzigen Funken von Anstand bewahrt hatten, rollten sich zusammen und versuchten, sich mit ihren kümmerlichen Fetzen zuzudecken. Die anderen drehten sich weg und hofften, in der Dunkelheit unsichtbar zu werden.
Charbonneau hatte die Bewohner des untersten Decks Tiere genannt. Selbst wenn man Zugeständnisse an sein Vorurteil machte, schien das ein hartes Urteil, aber wenn man sich hier umsah, musste man ihm Recht geben. Während Hawkwood auf dem Deck weiterging, drehte sich ihm der Magen um beim Gestank und Anblick der Gefangenen, die hier in ihrem eigenen Dreck lagen.
»Hier würde ich nicht mal einen Hund halten wollen«, flüsterte Lasseur entsetzt.
Es schien unvorstellbar, dass Menschen sich so degradieren konnten. Hawkwood fragte sich, ob es britischen Gefangenen in französischen Gefängnissen wohl ebenso ging. Er wusste nicht, ob die Franzosen dafür auch Schiffe benutzten. Er wusste, es gab Festungen, die zu Gefängnissen geworden waren; viele davon waren im Norden, bei Verdun, Quimper und Arras. Waren die Zustände dort so schlimm wie hier? Man musste doch vermuten, dass jeder französische Gefangene, dem die Flucht gelungen war, keine Zeit verschwenden würde, um die brutalen Bedingungen publik zu machen, unter denen er festgehalten worden war. Und man konnte sich vorstellen, dass die Franzosen ihrerseits dafür sorgen würden, dass die Briten im Gegenzug mit derselben Verachtung behandelt wurden.
Wie viele Soldaten hatte Hawkwood immer einen schnellen Tod auf dem Schlachtfeld für weitaus wünschenswerter gehalten, als verwundet vom Feldchirurgen aufgeschnitten und begutachtet zu werden, um dann langsam und schmerzvoll als Krüppel zu sterben. Jetzt, tief gebückt und von jämmerlichstem Elend umgeben, erkannte er, dass es noch schlimmere Schicksale gab als das Messer des Chirurgen. Gefangen genommen zu werden und an einem Ort wie diesem eingesperrt zu sein - das war auch eine Art von Tod; ein ganz langsamer, allmählicher Tod. Und das verdiente kein Mensch, egal auf welcher Seite er kämpfte.
Während Hawkwood sich unter den Deckenbalken weitertastete und versuchte, keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bemerkte er einige dunkle Gegenstände, die an die Stützpfeiler genagelt waren. Neugierig blieb er stehen. Lasseur hob die Laterne höher, und Hawkwood erkannte, dass er vor Rattenfellen stand, an denen noch Ohren und Schwänze waren. Was hatte Charbonneau gesagt? Selbst die Ratten sind vor ihnen nicht sicher . Hawkwood überlegte, wie Ratte wohl schmecken mochte. Angewidert drehte er sich weg.
Sie hatten fast den Bug erreicht. Vor ihnen ragte stabil und zuverlässig der untere Teil des Fockmastes aus dem Deck. Hier war es nicht so überfüllt wie weiter hinten, stellte Hawkwood verwundert fest. Fast schien es, als wäre der Mast so etwas wie ein Totempfahl, den die meisten der Rafalés als eine Art Grenze respektierten, hinter die man nicht ging.
Hawkwood merkte plötzlich, wie ihm der Rücken wehtat, die Folge des ständigen Bückens. Er versuchte, den Schmerz zu lindern, indem er sich vorsichtig aufrichtete, erwartete aber gleichzeitig, dass das wenig Sinn haben würde. Doch erstaunt stellte er fest, dass die Deckenhöhe zwischen den Querbalken etwas großzügiger war. Er konnte zwar noch immer nicht ganz gerade stehen, aber es war entschieden besser als die jämmerliche Höhe am unteren Ende der Treppe.
Juvert blieb stehen. Plötzlich schien ihn wieder die Angst zu packen. Hawkwood spähte angestrengt nach vorn. Er hörte Stimmen, aber in dem Teil des Bugs, der vor dem Fockmast lag, herrschte fast undurchdringliche Dunkelheit und er konnte nichts erkennen. Doch dann hörte er ein brutales Gelächter und sah näher hin. Er brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass dort eine dicke Schicht von Decken wie ein Vorhang vom Balken hing, wodurch der Raum am Bug vom Rest des Decks praktisch abgetrennt war. In der Dunkelheit hinter dem Vorhang hörte man Sprechen und das Klappern von Würfeln.
Lasseur hob die Laterne. Er nickte. Hawkwood ergriff Juverts Arm und zog eine Seite des Vorhangs zurück.
Während seiner Zeit in der Armee hatte Hawkwood so manche Seereise mitgemacht. Die Bedingungen waren fast ausnahmslos ziemlich primitiv gewesen. Aber er konnte sich noch gut an die Transportschiffe erinnern und hatte eine ungefähre Ahnung von ihrem Grundriss unter Deck. Im früheren Leben der Rapacious war der Raum am Bug wahrscheinlich vom Bootsmann und vom Schiffszimmermann bewohnt gewesen, der hier sicher auch seine Werkstatt hatte. Außerdem hätte hier das Munitionslager der Kanoniere gelegen. Dieser ganze Teil des untersten Decks wäre durch ein gewölbtes Schott vom restlichen Deck getrennt gewesen. Auf der Rapacious war dieses Schott jetzt entfernt worden. Kabinen und Vorratslager waren dunkle Nischen, die nur von Laternen beleuchtet waren, einige waren hinter aufgehängten Decken völlig verborgen. Hawkwood sah, dass man auch vor die Fensteröffnungen Fetzen von Decken gehängt hatte, damit weniger Tageslicht durch die Gitter kam.
Hier hielten sich vielleicht zehn bis zwölf Männer auf, die an den Tischen saßen oder sich auf den Pritschen ausstreckten, die meisten von ihnen trugen die gelbe Gefangenenkluft, doch einige trugen auch eine Decke als Toga. Zwei der Männer waren mit einem Würfelspiel beschäftigt. Weitere vier spielten an einem anderen Tisch Karten - Drogue , wie Hawkwood beim Anblick zweier Männer schloss, die sich Holzklammern auf die Nase geklemmt hatten und den Ausgang der nächsten Runde abwarteten.
Hawkwood fand, dass es hier gar nicht so viel anders aussah als in den Schnapsspelunken der Slums. Der einzige Unterschied war, dass hier ein halbes Dutzend Hängematten an den Deckenbalken baumelten.
Als Hawkwood und Lasseur eintraten, hörten die Gespräche schlagartig auf. Am Kartentisch setzten sich die beiden Männer, die am Verlieren waren, aufrecht hin und entfernten heimlich ihre Nasenklammern.
Hawkwood sprach zuerst. »Wir suchen Matisse.«
Niemand antwortete, und einige der Männer beäugten sie argwöhnisch.
»Na, habt ihr die Sprache verloren?« Hawkwood packte Juvert beim Ellbogen. »Welcher ist es?«
Juvert wand sich. Sein Mund war ein stummes O. Er schlotterte vor Angst, aber ehe er antworten konnte, standen einige der Männer auf. Ihre Hände waren nicht leer. Jeder war mit etwas bewaffnet, das wie eine schwere Metallklinge aussah, ungefähr achtzehn Zoll lang.
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