Der Tritt von Lasseurs Stiefel traf ihn im unteren Rücken, sodass sein Kopf gegen die Stütze des Netzes geschleudert wurde. Man hörte ein dumpfes Krachen, als Juverts schmale Nase aufprallte. Er schrie auf. Das Blut floss. Lasseur trat näher, packte Juvert an der Kehle und drückte zu. Das Blut aus Juverts gebrochener Nase tropfte auf sein Handgelenk.
»Erinnerst du dich?«, sagte Lasseur. In seinen Augen loderte die Wut.
Juvert riss die Augen auf, zuerst vor Schreck, dann vor Angst. Er stöhnte auf und versuchte sich mit einem Ruck zu befreien, aber Lasseurs Griff war eisern.
Hawkwood nahm Juverts linken Arm. Lasseur nahm den rechten. Sie zerrten ihn wieder auf die Füße.
»Wenn du Schwierigkeiten machst, hast du nicht nur’ne gebrochene Nase - dann brech ich dir das Genick.«
Mit grimmigem Lächeln sah Hawkwood hinüber zu den Gefangenen auf der Latrine, die mit offenem Mund dasaßen und nicht wussten, ob es ratsamer war, sitzen zu bleiben oder einen strategischen, wenn auch wenig eleganten Rückzug anzutreten. »Weitermachen, meine Herren. Wir gehen sowieso gerade.«
Sie verließen die Latrine, wobei sie den wimmernden Juvert zwischen sich nahmen. Die kleine Prozession wurde von vielen neugierigen Blicken begleitet. Einige runzelten die Stirn beim Anblick von Juverts blutverschmierter Visage, während er ohne weitere Umstände übers Deck gezerrt wurde, aber ein Blick auf Lasseurs wütendes Gesicht reichte, um jeden wissen zu lassen, dass es unklug wäre, sich einzumischen.
Lasseur beugte sich ganz dicht an Juverts Ohr. »Habe ich dich gewarnt, den Jungen in Ruhe zu lassen, oder nicht?«
»We - welcher Junge?«, stotterte Juvert. Beim Zusammenstoß mit der Stütze war seine Lippe geplatzt und hatte die paar Zähne, die ihm noch geblieben waren, gelockert.
Es war die falsche Antwort. Lasseur schwenkte Juvert herum und schleuderte ihn gegen das gewölbte Schott. Dann schlug er ihm mit voller Wucht ins Gesicht. »Versuche nicht, irgendwelche Spielchen mit mir zu treiben! Dazu bin ich jetzt nicht aufgelegt.«
»Was hab ich denn gemacht?«, kam es schwach über Juverts blutige Lippen.
Ehe er sich’s versah, hatte Lasseur ihm einen noch heftigeren Faustschlag versetzt.
Wieder stieß Juvert ein hohes, heiseres Krächzen aus. Aus seiner Nase tropfte Blut und rann über sein Kinn.
»Du hast doch den Jungen, Lucien, entführt, stimmt’s?«, fragte Lasseur mit Nachdruck.
Die Hand über der Nase, murmelte Juvert etwas Unverständliches. Der Schmerz hatte ihm Tränen in die Augen getrieben.
»Was?«, Lasseur hielt die Hand hinter sein Ohr. »Bisschen lauter, wir verstehen nichts.«
Juvert, der einen weiteren Schlag erwartete, hob die Hände. »Ich musste es tun.« Die Worte blubberten aus seiner gebrochenen Nase und der geplatzten Lippe hervor.
»Musste?«, sagte Hawkwood.
Juvert spuckte einen Klumpen Blut aus. »Es war Matisse! Er hat mich dazu gezwungen. Ich hatte Sp - Spielschulden bei ihm. Er sagte, wenn ich ihm den Jungen bringe, sind wir quitt.«
»Du erbärmliches Stück Scheiße«, fauchte Lasseur. Er holte mit der geballten Faust aus.
Juvert krümmte sich und schloss die Augen. »Bitte …«
» Bitte? Du wagst es noch, zu bitten? Hat Lucien Ballard um Gnade gebeten? Hat einer der anderen Jungen um Gnade gebeten, die du zu ihm gebracht hast?«
Juvert wich zurück.
Besorgt, dass Lasseur Juvert völlig zusammenschlagen würde, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten, ging Hawkwood mit der Hand dazwischen.
»Du wirst uns zu Matisse bringen«, sagte er. »Und dann werden Captain Lasseur und ich seiner Majestät klarmachen, dass er einen Fehler begangen hat.«
»Das dürfen Sie nicht«, bettelte Juvert und versuchte wieder, sich zu befreien. Sein verängstigter Blick ging erst zu Hawkwood, dann zu Lasseur, dann wieder zurück. »Sie kennen ihn nicht. Matisse bringt mich um.«
Hawkwood deutete mit dem Kopf auf Lasseur. »Und wenn du uns nicht zu ihm führst, bringt er dich um. Und wenn er es nicht macht, dann ich. Also los.«
Der Balken über dem Abgang hätte eine Inschrift tragen müssen, dachte Hawkwood, als er in die Dunkelheit hinunter sah: Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren . Er hatte diesen Satz irgendwo einmal gehört, wusste aber nicht mehr, wann oder wo.
Lasseur hatte vom Geschützdeck eine Laterne mitgebracht. Er hielt sie über die Luke. Verglichen mit den anderen an Bord, war diese hier klein. Auch die Treppe nach unten sah schmaler und viel steiler aus. Von hier oben konnte Hawkwood nur mit Mühe die unterste Stufe erkennen. Sie lag im Dunkel und war kaum zu sehen. Es waren keine Anzeichen von Leben auszumachen, obwohl er schwache Geräusche hören konnte, die von tief im Inneren des Schiffsrumpfes zu ihm heraufdrangen; ein leises Flüstern, wie das Flattern winziger Flügel. Er hörte auch ein schwaches Rascheln, dann brummendes Gelächter und ein leises Klicken, wie wenn winzige Krallen über eine Tischplatte laufen.
Juvert sah aus wie jemand, der kurz davorstand, in eine Schlangengrube geworfen zu werden. Das Blut aus seiner gebrochenen Nase war auf seiner Oberlippe angetrocknet, und auf seinen Wangen waren senkrechte Schlieren, wo Schweiß und Tränen sich den Weg durch den Schmutz auf seinem Gesicht gebahnt hatten.
»Vorwärts«, befahl Hawkwood.«
Den widerstrebenden Juvert vor sich her schiebend, stiegen Lasseur und Hawkwood durch die Luke.
Es war, als stiege man in einen Backofen. Mit jeder Stufe war es Hawkwood, als würde mehr Luft aus seiner Lunge gequetscht. Er erinnerte sich an Murats Beschreibung des untersten Decks, und dass es verglichen mit dem Geschützdeck noch wesentlich niedriger war. Trotzdem war er, als er unten angekommen war, auf diese geringe Höhe nicht vorbereitet; die Decke war mindestens sechs Zoll niedriger als auf dem Geschützdeck. Er hörte einen dumpfen Schlag. Die Laterne schaukelte hin und her, und er hörte Lasseur fluchen, ein Beweis, dass es selbst für erfahrene Seeleute noch Überraschungen gab. Hardy, der Kapitän der Victory , sollte einiges über sechs Fuß groß gewesen sein. Weiß der Himmel, wie der klargekommen war. Der Mann muss ja ständig blaue Flecken gehabt haben.
Hawkwood vermutete, dass seine Ankunft sich herumgesprochen hatte, sowie Juvert seinen Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Das Flüstern, das er vorhin zu hören glaubte, hatte zugenommen, als die Nachricht von seiner Ankunft sich auf dem Deck verbreitete. Es klang wie Blätterrauschen im Wind. Wenn das Schiff noch seetüchtig gewesen wäre, hätte dieses Deck unter dem Wasserspiegel gelegen, ohne jede Zufuhr von frischer Luft oder natürlichem Licht. Aber Hawkwood hatte vom Boot aus gesehen, dass man auf Höhe dieses Decks Fensteröffnungen in den Schiffsrumpf gesägt hatte. Sie waren kleiner als die Geschützöffnungen auf dem Deck darüber, ebenfalls viereckig und mit Eisenstäben vergittert, aber dennoch groß genug, dass Tageslicht einfiel, wie Hawkwood erleichtert feststellte. Er wäre nicht gern im Dunkeln hier herumgeirrt, mit nichts weiter als einer Laterne als Lichtquelle.
Das Geschützdeck ähnelte einem Keller, doch dieses Deck hier war eher wie eine Katakombe. Wieder hörte er Lasseur leise fluchen und dachte daran, wie der Privateer ihm von seiner Reise auf einem Sklavenschiff vor Südafrika erzählt hatte. Es schien, als durchlebte er diese Abenteuer jetzt wieder. Die Hitze allein wäre schon genug gewesen, um die Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Sie war erstickend, viel schlimmer als auf dem Geschützdeck, und die feuchte Luft war unerträglich. Hawkwoods Hemd war vom Schweiß durchnässt, auf seiner Haut kribbelte es unangenehm.
Wenn man Charbonneau Glauben schenken durfte, dann zogen die Römer die Dunkelheit vor. Doch das schien nicht ganz zu stimmen, wie die offenen Bullaugen bewiesen, außerdem sah Hawkwood auch Laternenlicht. Er überlegte, ob es nicht eher die Angst der Römer und Rafalés vor Außenseitern war, die sie praktisch nachtaktiv gemacht hatte, als ihre angebliche Vorliebe für die Dunkelheit.
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