«Vielleicht findet er das besser», entgegnete ich.
«Ich will aber keine Maus sein!», rief Bruno und sprang wie verrückt auf und ab. «Ich weigere mich, eine Maus zu sein. Ich bin Bruno Jenkins!» «Es gibt Schlimmeres, als eine Maus zu sein», sagte ich. «Du kannst in einem Loch wohnen.»
«Ich will aber nicht in einem Loch wohnen!»
«Und nachts kannst du in die Speisekammer huschen», fuhr ich fort, «und dich durch alle Tüten und Packungen durchfressen: Rosinen und Cornflakes und Schokoladenkeks, alles, was es gibt. Du kannst die ganze Nacht dort bleiben und fressen, bist du platzt. Das machen Mäuse immer.»
«Gar keine schlechte Idee», antwortete Bruno schon wieder etwas vergnügter. «Aber wie krieg ich die Tür vom Kühlschrank auf, wenn ich das kalte Huhn und die anderen Reste essen will? Das mach ich nämlich zu Hause jeden Abend.»
«Vielleicht lässt dir dein reicher Vater einen extra kleinen Mäusekühlschrank ganz für dich allein bauen», sagte ich. «Einen, den du aufmachen kannst.»
«Du hast gesagt, eine Hexe hätte das mit mir gemacht», sagte Bruno. «Was für eine Hexe?»
«Diejenige, die dir gestern in der Hotelhalle die Schokolade geschenkt hat», erklärte ich ihm. «Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?»
«Die blöde alte Kuh!», schrie er. «Die wird mir das büßen! Wo ist sie? Wer ist sie?»
«Vergiss es», sagte ich. «Das ist hoffnungslos. Dein größtes Problem sind im Augenblick deine Eltern. Wie werden sie das aufnehmen? Wie werden sie dich behandeln? Freundlich und verständnisvoll?»
Bruno dachte einen Augenblick nach. «Ich glaube», antwortete er, «mein Vater kriegt Zustände.»
«Und deine Mutter?»
«Sie hat Angst vor Mäusen», sagte Bruno.
«Dann steckst du wirklich in Schwierigkeiten, oder?»
«Wieso nur ich?», fragte er. «Wie ist es denn mit dir?»
«Meine Großmutter wird alles vollkommen verstehen», entgegnete ich. «Sie weiß über Hexen Bescheid.»
Bruno nahm noch einen Bissen von seinem Brötchen. «Und was schlägst du vor?», fragte er.
«Ich schlag vor, dass wir zuerst einmal zu meiner Großmutter gehen und sie um Rat fragen», antwortete ich. «Sie wird genau wissen, was zu tun ist.»
Ich trippelte zu den Türen, die sperrangelweit offen standen. Bruno, der immer noch ein Stückchen Brot in einer Pfote hielt, folgte mir.
«Wenn wir auf den Korridor kommen», sagte ich, «dann müssen wir wie verrückt rennen. Halt dich immer dicht an der Wand und folge mir. Halt den Mund und pass auf, dass dich keiner sieht. Denk immer dran, jeder, der dich sieht, will dich umbringen.» Ich riss ihm das Brötchen aus der Pfote und warf es weg. «Hier entlang», sagte ich. «Halt dich hinter mir.»
Sowie ich den Ballsaal verlassen hatte, zischte ich ab wie ein Blitz. Ich flitzte den Korridor entlang, sauste durch die Halle und den Leseraum und die Bibliothek und den Rauchsalon und erreichte das Treppenhaus. Schon sprang ich die Treppe hinauf, wobei ich mit größter Leichtigkeit von einer Stufe zur andern hüpfte, indem ich mich immer so dicht wie möglich an der Wand hielt. «Bist du bei mir, Bruno?», wisperte ich.
«Genau hinter dir», flüsterte er zurück.
Das Zimmer meiner Großmutter und mein eigenes lagen im fünften Stock. Das war ein ganz schöner Aufstieg, aber wir schafften ihn, ohne einer Menschenseele zu begegnen, weil natürlich alle den Aufzug benutzten. Im fünften Stock rannte ich den Gang entlang bis zur Tür vom Zimmer meiner Großmutter. Ein Paar von ihren Schuhen stand zum Putzen vor der Tür. Bruno war neben mir. «Was machen wir jetzt?», fragte er.
Plötzlich sah ich ein Zimmermädchen, das auf dem Korridor auf uns zukam. Ich merkte sofort, dass es diejenige war, die mich beim Hoteldirektor verpetzt hatte, weil ich weiße Mäuse hielt. Das war deshalb niemand, dem ich in meiner gegenwärtigen Lage in die Quere kommen wollte. «Rasch!», zischte ich Bruno zu. «Versteck dich in einem dieser Schuhe!» Ich hüpfte in den einen, und Bruno hüpfte in den anderen. Ich wartete nun, dass das Mädchen an uns vorüberginge. Das tat sie aber nicht. Als sie die Schuhe erreicht hatte, bückte sie sich und hob sie auf. Dabei schob sie ihre Hand genau in denjenigen Schuh, in dem ich saß. Als einer ihrer Finger mich berührte, biss ich zu. Es war natürlich idiotisch, aber ich tat es ganz instinktiv, ohne nachzudenken. Das Zimmermädchen stieß einen Schrei aus, den man auf allen Schiffen draußen auf dem
Ärmelkanal gehört haben muss, und sie ließ die Schuhe fallen und stürmte den Korridor entlang.
Die Tür meiner Großmutter ging auf. «Was ist denn um Himmels willen hier draußen los?», fragte sie. Ich schoss zwischen ihren Beinen in ihr Zimmer, und Bruno folgte mir.

«Mach die Tür zu, Großmama!», rief ich. «Rasch, bitte rasch!»
Sie schaute sich um und erblickte zwei kleine braune Mäuse auf dem Teppich.
«Bitte mach die Tür zu», flehte ich, und diesmal sah sie mich wirklich sprechen und erkannte meine Stimme. Sie erstarrte und stand vollkommen reglos da. Alle Teile ihres Körpers, ihre Finger und ihre Hände und ihre Arme und ihr Kopf wurden plötzlich so steif wie bei einer Marmorstatue. Ihr Gesicht verlor alle Farbe und wurde blasser als Marmor, und ihre Augen öffneten sich so weit, dass ich rings herum das Weiße sehen konnte. Dann fing sie an zu zittern und zu beben. Ich dachte schon, sie würde ohnmächtig werden und umkippen.
«Bitte, mach schnell die Tür zu, Großmama», sagte ich. «Sonst kann dieses gemeine Mädchen ja hereinkommen!»
Irgendwie gelang es ihr, sich so weit zusammenzureißen, dass sie die Tür schloss. Sie ließ sich dagegenfallen, starrte mich mit ihrem totenblassen Gesicht an und schlotterte am ganzen Leibe. Ich sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und die Wangen herunterrannen.

«Wein doch nicht, Großmama», sagte ich. «Es könnte alles viel schlimmer sein. Ich bin ihnen ja entkommen. Ich lebe noch. Und Bruno lebt auch.»
Ganz, ganz langsam bückte sie sich und nahm mich in die eine Hand. Dann nahm sie Bruno in die andere Hand und setzte uns beide auf den Tisch. Mitten auf dem Tisch stand eine Schale mit Bananen, und Bruno war mit einem einzigen Satz drinnen und begann sofort, die Zähne in eine Banane zu schlagen, um an das süße Fruchtfleisch zu kommen.
Meine Großmutter klammerte sich an der Lehne ihres Sessels fest, um sich zu fassen, aber sie ließ mich auch dabei nicht aus den Augen.
«Setz dich doch, liebste Großmama», sagte ich.
Sie sank kraftlos in den Sessel. «Oh, mein Schätzelchen», murmelte sie, und jetzt strömten ihr wirklich die hellen Tränen über die Wangen. «O mein armes süßes Herzchen. Was haben sie nur mit dir gemacht?»
«Ich weiß, was sie gemacht haben, Großmama, und ich weiß auch, was ich bin, aber das Komische ist, es macht mir ganz ehrlich fast gar nichts aus. Ich bin nicht mal wütend. Ich fühle mich im Grunde genommen richtig wohl. Ich weiß, ich bin kein Junge mehr und werde nie wieder einer sein, aber solange du da bist und für mich sorgst, ist alles in Ordnung.» Das sagte ich nicht, um sie zu trösten. Ich sprach die Wahrheit, genauso fühlte und dachte ich. Ihr meint jetzt vielleicht, es sei doch merkwürdig, dass ich nicht auch weinen musste. Ja, es war wirklich merkwürdig, ich kann es einfach nicht erklären.
«Natürlich werde ich für dich sorgen», murmelte meine Großmutter. «Wer ist der andere?»
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