Dogger, Feely, Mrs Mullet und ich saßen nebeneinander auf Stühlen, während Vater ganz in der Nähe an einer Holzschnitzerbank mit seinen Briefmarken beschäftigt war.
Das Stück war Romeo und Julia , und Daffy spielte in einer bemerkenswerten Eine-Frau-Aufführung sämtliche Rollen. Eben war sie Julia auf dem Balkon (der Absatz oben auf unserer Westtreppe), im nächsten Moment erschien sie, obwohl sie kaum länger als einen Wimpernschlag weg gewesen war, unten im Rang als Romeo.
Sie flitzte hoch und runter, hoch und runter und bewegte unsere Herzen mit Worten von zärtlicher Liebe.
Ab und zu legte Dogger den Zeigefinger an die Lippen und
Mrs Mullet lachte und lachte über Julias alte Amme, wurde ganz rot und warf uns allen merkwürdige Blicke zu, als wäre in den Worten eine verklausulierte Nachricht verborgen, die nur sie verstand. Sie wischte sich mit einem getupften Taschentuch über das rote Gesicht, wrang es in den Händen hin und her, bis sie es zusammenknüllte und in den Mund steckte, um ihr hysterisches Lachen zu ersticken.
Jetzt beschrieb Daffy (als Mercutio), wie Mab, die Zauberfee, galoppiert:
Der Schönen Lippen, die von Küssen träumen -
Oft plagt die böse Mab mit Bläschen diese,
weil ihren Odem Näscherei verdarb.
Ich warf Feely einen verstohlenen Blick zu, die, trotz der Tatsache, dass ihre Lippen aussahen wie etwas, das man auf dem Karren eines Fischhändlers finden mochte, Neds Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Ned saß hinter ihr und beugte sich über ihre Schulter nach vorne, bat mit gespitzten Lippen um einen Kuss. Aber jedes Mal, wenn Daffy als Romeo vom Balkon in den Rang herabhuschte (wobei sie mit dem bleistiftdünnen Oberlippenbart eher wie David Niven in Irrtum im Jenseits als wie der noble Montague aussah), sprang Ned auf und klatschte frenetisch Beifall, begleitet von gellenden Pfiffen, die er mit zwei Fingern produzierte, während Feely ungerührt ein Pfefferminzbonbon nach dem anderen in den Mund warf und erst dann erstaunt die Luft anhielt, als Romeo in Julias Marmorgrab eindrang:
Denn hier liegt Julia: ihre Schönheit macht
Zur lichten Feierhalle dies Gewölb’.
Da lieg begraben, Tod …
Ich erwachte. Verdammt! Etwas rannte mir über die Füße: etwas Nasses und Pelziges.
»Dogger!«, versuchte ich zu schreien, aber mein Mund war voll. Mein Unterkiefer tat weh, und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er gerade vom Henkersblock heruntergezogen worden.
Ich trat mit beiden Füßen aus, und etwas trippelte mit wütendem Zwitschern über das raschelnde Papier.
Eine Wasserratte. Wahrscheinlich wimmelte es in der Grube von ihnen. Hatten sie mich im Schlaf bereits angeknabbert? Allein der Gedanke ließ mich zusammenzucken.
Ich setzte mich mühevoll auf und lehnte mich wieder an die Wand, die Knie unters Kinn gezogen. Es war wohl zu viel erwartet, dass die Ratten meine Fesseln durchknabberten, so wie im Märchen. Eher würden sie mir die Fußgelenke bis zum Knochen abnagen, und ich würde nicht einmal etwas dagegen tun können.
Hör schon auf, Flave, dachte ich. Jetzt nicht die Fantasie mit dir durchgehen lassen.
In der Vergangenheit war es mir schon einige Male passiert, bei der Arbeit im Chemielabor etwa, oder auch abends im Bett, dass ich mich unverhofft bei dem Gedanken ertappte: »Du bist ganz allein mit Flavia de Luce«, was manchmal ein beunruhigender Gedanke war und manchmal nicht. Das in der Grube war eine der unheimlicheren Situationen.
Ich konnte das Trippeln deutlich hören: Etwas raschelte in der Ecke der Grube zwischen den Zeitungen herum. Wenn ich die Beine oder den Kopf bewegte, verstummten die Geräusche einen Augenblick, um kurz darauf wieder einzusetzen.
Wie lange hatte ich geschlafen? Waren es Stunden oder nur
Ich dachte daran, dass die Bücherei bis Dienstagmorgen geschlossen war, und heute war erst Montag. Ich konnte also noch eine ganze Weile hier unten sitzen.
Irgendwann würde mich jemand als vermisst melden, klar, höchstwahrscheinlich Dogger. Konnte ich wirklich darauf hoffen, dass er Pemberton beim unbefugten Betreten von Buckshaw erwischte? Aber selbst wenn er geschnappt wurde, hieß das noch lange nicht, dass ihnen Pemberton verriet, wo er mich versteckt hatte.
Langsam wurden meine Hände und Füße taub. Ich musste an den alten Ernie Forbes denken, dessen Enkel ihn auf einem kleinen Rollbrett über die Hauptstraße ziehen mussten. Ernie hatte im Krieg eine Hand und beide Füße durch Wundbrand verloren, und Feely hatte mir einmal erzählt, dass man ihn …
Lass den Quatsch, Flave! Sei gefälligst nicht so ein elender Jammerlappen!
Denk an etwas anderes. An irgendwas.
Zum Beispiel an … Rache?
Manchmal, besonders dann, wenn ich irgendwo einge sperrt bin, neigen meine Gedanken dazu, wie verrückt in sämtliche Richtungen zu schweifen, wie bei dem Mann in Stephen Leacocks Kurzgeschichte.
Ich schäme mich fast, die Dinge zuzugeben, die mir zuerst in den Kopf kamen. Die meisten hatten irgendetwas mit Gefängnis zu tun, einige beschäftigten sich mit Haushaltsgeräten, und alle drehten sich um Frank Pemberton.
Meine Gedanken flogen zu unserer ersten Begegnung im Dreizehn Erpel zurück. Ich hatte zwar sein Taxi vor der Tür anhalten sehen und Tully Stoker nach Mary rufen hören, weil Mister Pemberton frühzeitig eingetroffen sei, aber ich hatte den Mann selbst nicht mit eigenen Augen gesehen. Das geschah erst am Sonntag, auf der Insel mit dem Tempelchen.
Obwohl es mehr als eine Ungereimtheit hinsichtlich Pembertons plötzlichem Erscheinen auf Buckshaw gab, hatte ich noch keine Zeit gehabt, in aller Ruhe darüber nachzudenken.
Zunächst einmal war er erst mehrere Stunden, nachdem Horace Bonepenny sein Leben ausgehaucht hatte, in Bishop’s Lacey aufgetaucht. Oder nicht?
Als ich Pemberton am Seeufer hatte stehen sehen, war ich überrascht gewesen. Aber warum? Ich war auf Buckshaw zu Hause: Dort war ich zur Welt gekommen und hatte zeit meines Lebens dort gewohnt. Was war so verwunderlich an einem Mann, der am Ufer eines künstlich angelegten Sees stand?
Ich spürte, wie die Antwort auf diese Frage bereits an dem Haken knabberte, den ich in mein Unbewusstes hinabgelassen hatte. Nicht so verbissen darauf starren, dachte ich, denk an etwas anderes, oder tu zumindest so.
An jenem Tag hatte es geregnet oder gerade angefangen zu regnen. Ich hatte von den Stufen der kleinen Tempelruine, auf denen ich saß, aufgeblickt, und ihn auf der anderen Seite, der Südseite des Sees stehen sehen, der Südostseite, um genau zu sein. Warum um alles in der Welt war er aus dieser Richtung aufgetaucht?
Das war die Frage, deren Antwort ich bereits seit einiger Zeit kannte.
Bishop’s Lacey lag nordöstlich von Buckshaw. Vom Mulford-Tor am Eingang unserer Kastanienallee führte die Straße in sanften Kurven mehr oder weniger direkt ins Dorf. Trotzdem war Pemberton von Südosten her gekommen, aus Richtung Doddingsley, das ungefähr vier Meilen hinter den Feldern lag. Warum nur, in drei Teufels Namen, hatte ich mich gefragt, war er bloß aus dieser Richtung gekommen? Da es nicht allzu viele Gründe dafür gab, hatte ich sie rasch in meinem geistigen Notizbuch notiert:
1. Falls (wie ich vermutete) Pemberton der Mörder H orace Bonepennys war, konnte es sein, dass es ihn, wie angeblich alle Mörder, an den Ort seiner Tat zurückgetrieben hatte? Hatte er vielleicht etwas vergessen? Etwa die Mordwaffe? War er nach Buckshaw zurückgekommen, um sie zu holen?
2. Da er bereits in der Nacht davor auf Buckshaw gewesen war, kannte er den Weg über die Felder und vermied es so, gesehen zu werden (siehe Punkt 1 oben).
Was, wenn Pemberton am Freitag, am Abend vor dem Mord, Bonepenny von Bishop’s Lacey nach Buckshaw gefolgt war in Rächer von Ulster bei sich hatte, und ihn dann ermordet hatte?
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