Als er dann die Pistole abfeuerte und mir in die Brust schoss, brach ein wahres Inferno los! Ich hatte meinen Ketchupvorrat vorsorglich mit Wasser verdünnt und ein wenig angewärmt, worauf der Blutfleck grässlich echt wirkte.
Der Vater von Giddings Minor musste von Mr Twining, der
›Beruhigen Sie sich, guter Mann‹, raunte ihm Twining zu, ›das ist nur ein Trick. Die Jungen haben ihn schon oft vorge führt.‹ <
Mr Giddings wurde widerstrebend und mit hochrotem Kopf wieder auf seinen Platz geführt. Trotzdem war er nach der Vorstellung Manns genug, zu uns zu kommen und uns anerkennend die Hände zu schütteln.
Nach einem derartig grausigen Blutbad war meine Schwebenummer bei der Wiederauferstehung schon fast eine Enttäuschung, auch wenn uns das wohlwollende Publikum, das erleichtert war, dass der unglückliche Freiwillige wieder ins Leben zurückkehrte, mit schier nicht enden wollendem Applaus belohnte. Wir bekamen sieben Vorhänge, auch wenn ganz klar war, dass mindestens sechs davon meinem genialen Partner gebührten.
Bony sog die Huldigungen auf wie ein Schwamm. Noch eine Stunde nach der Vorstellung war er mit Händeschütteln beschäftigt, eine wahre Sturmflut bewundernder Mütter und Väter, die ihn nur mal anfassen wollten, umringte ihn, wildfremde Menschen klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Als aber auch ich ihm den Arm um die Schultern legte, sah er mich nur mit einem entrückten Ausdruck an, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen.
In den folgenden Tagen fiel mir auf, dass mit ihm eine Veränderung vorgegangen war. Nun war Bony der selbstsichere Zauberer und ich nur noch sein unbedeutender Assistent. Auf einmal redete er ganz anders mit mir und gewöhnte sich eine ziemlich lässige Art an, als hätte es seine frühere Schüchternheit nie gegeben.
Ich kann wohl guten Gewissens behaupten, dass er mich fallen ließ, jedenfalls wirkte es so. Ich sah ihn oft mit einem
Eines Tages merkte ich erschrocken, dass ich ihn eigentlich nicht mehr leiden konnte. Er war nicht mehr derselbe, oder vielleicht war erst jetzt seine wahre Natur zutage getreten, ich wusste es nicht. Manchmal ertappte ich ihn im Unterricht dabei, wie er mich anstarrte. Anfangs mit dem Blick eines alten Mandarins, dann wurde sein Blick sonderbar kalt, reptilienhaft. Ich hatte das Gefühl, als sei mir auf irgendeine unbekannte Weise etwas gestohlen worden.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.«
Vater verstummte und ich wartete darauf, dass er weitererzählte, aber er saß einfach nur da und blickte mit ausdrucksloser Miene in den Regen hinaus. Ich hielt es für das Beste, mich still zu verhalten und ihn seinen Gedanken zu überlassen, worum auch immer sie sich drehen mochten.
Aber ich spürte, dass sich in unserem Verhältnis etwas verändert hatte, genau wie es Vater mit Horace Bonepenny ergangen war.
Da saßen wir nun, Vater und ich, in einem kleinen Zimmer eingesperrt, und zum ersten Mal überhaupt führten wir so etwas Ähnliches wie eine richtige Unterhaltung. Wir sprachen beinahe wie zwei Erwachsene miteinander, beinahe wie ein menschliches Wesen mit einem anderen, beinahe wie Vater und Tochter. Und obwohl mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können, wünschte ich mir, dass es immer so weitergehen sollte, bis der letzte Stern erloschen war.
Ich hätte Vater gern umarmt, aber ich brachte es nicht über
Darum saßen Vater und ich steif nebeneinander wie zwei alte Damen beim Kirchenkaffeekränzchen. Ideal war das nicht, aber wir mussten uns damit begnügen.
Ein Blitz sog alle Farbe aus dem Zimmer, fast gleichzeitig ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Wir zuckten beide zusammen.
»Das Gewitter ist direkt über uns«, sagte Vater.
Ich nickte, um ihm zu versichern, dass wir da beide gemeinsam drinsteckten, und sah mich um. Der hell erleuchtete, würfelförmige kleine Raum mit der nackten Glühbirne an der Decke, der Pritsche und der Stahltür mit dem vor dem Fenster niederrauschenden Regen erinnerte mich an die Kommandozentrale des U-Boots in dem Film Tauchfahrt bei Tagesanbruch. Bei jedem Donnerschlag stellte ich mir vor, dass über unseren Köpfen ein Torpedo detonierte, und auf einmal hatte ich nicht mehr solche Angst um Vater. Zumindest waren wir beide jetzt Verbündete. Ich tat einfach so, als könne uns nichts Schlimmes widerfahren, solange ich still zuhörte und wir uns unauffällig verhielten.
Vater erzählte weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
»Wir entfremdeten uns sehr, Bony und ich. Zwar nahmen wir beide weiterhin an Mr Twinings Magischem Zirkel teil, aber sonst ging jeder von uns seinen eigenen Interessen nach. Ich entwickelte ein Faible für spektakuläre Bühnentricks: zersägte Jungfrauen, zauberte Vogelkäfige weg und so weiter. Natürlich lagen die meisten dieser Nummern jenseits meiner Schuljungenmöglichkeiten, aber irgendwann genügte es mir auch, darüber etwas nachzulesen und mir die Abläufe einzuprägen.
Bony hingegen widmete sich Tricks, die immer größere Fingerfertigkeit erforderten, simple Effekte, die man mit einem geringen Aufwand an Requisiten vor der Nase der Zuschauer ausführen konnte. Er konnte einen vernickelten Wecker aus einer Hand verschwinden und in der anderen wieder auftauchen lassen. Und er hat mir nie gezeigt, wie er das machte.
Ungefähr zur selben Zeit kam Mr Twining auf den Gedanken, einen Club der Philatelisten zu gründen, denn Briefmarkensammeln gehörte ebenfalls zu seinen Leidenschaften. Er war der Ansicht, dass wir durch das Sammeln, Ordnen und Einsortieren der Marken aus aller Welt ins Album einiges über Geschichte und Erdkunde sowie auch Sorgfalt lernen konnten, ganz zu schweigen davon, dass auch die verschlosseneren Mitglieder des Clubs durch die regelmäßigen Gruppengespräche an Selbstvertrauen gewinnen würden. Da er selbst ein begeisterter Sammler war, ging er davon aus, dass seine Jungen diese Begeisterung mit ihm teilen würden.
Seine eigene Sammlung, so kam es mir jedenfalls vor, war das achte Weltwunder. Er hatte sich auf britische Marken spezialisiert, mit Schwerpunkt auf Farbvarianten bei der Druckfarbe. Er besaß die untrügliche Fähigkeit, allein anhand der Färbung zu bestimmen, an welchem Tag, ja, um welche Stunde dieses oder jenes Exemplar gedruckt worden war. Indem er die von Marke zu Marke verschiedenen, mikroskopisch kleinen Risse und Abweichungen verglich, die von den Gebrauchsspuren der Druckplatten und der Ausführung des Druckvorgangs herrührten, konnte er erstaunlich viele Aussagen über das jeweilige Stück treffen.
Die einzelnen Seiten seiner Alben waren meisterlich gestaltet. Diese Farben! Und die Art und Weise, wie sie über die Seite verteilt waren - wie ein impressionistisches Gemälde von William Turner.
Zuerst kamen natürlich die schwarzen Marken von 1840.
Noch nie hatte ich Vater so lebhaft gesehen. Mit einem Mal war er wieder ein Schuljunge, seine strengen Züge waren wie verwandelt, sein Gesicht leuchtete wie ein blankpolierter Apfel. Vater fuhr fort: »Trotz allem besaß Mr Twining nicht die wertvollste Briefmarkensammlung in Greyminster. Diese Ehre gebührte Dr. Kissing, dessen Sammlung, obwohl nicht besonders umfangreich, äußerst erlesen, wenn nicht gar unschätzbar wertvoll war.
Dr. Kissing kam mitnichten, wie man es vielleicht vom Rektor einer unseren großen Public Schools erwarten würde, aus einer wohlhabenden oder zumindest privilegierten Familie. Von Geburt an Waise, war er bei seinem Großvater aufgewachsen, einem Arbeiter in einer Glockengießerei im Londoner East End, das damals eher für seine bedrückenden Lebensbedingungen als für seinen Wohlstand bekannt war, und eher für seine Verbrechensrate als für seine Bildungsmöglichkeiten.
Im Alter von achtundvierzig Jahren hatte der Großvater bei einem schlimmen Unfall mit flüssigem Metall den rechten Arm verloren. Da er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seinen Lebensunterhalt als Bettler auf der Straße zu verdienen, eine Zwangslage, in der er es fast drei Jahre aushielt.
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