Fünf Jahre zuvor, im Jahre 1840, war der Londoner Firma Messrs. Perkins, Bacon & Petch vom Schatzamt Ihrer Majestät das Exklusivrecht auf den Druck der britischen Briefmarken zugesprochen worden. ›Dieser gewaltige Ausstoß an Königinnenköpfen‹, wie es Charles Dickens genannt hatte.
Das Geschäft florierte. Allein in den ersten zwölf Jahren wurden über zwei Millionen Briefmarken gedruckt, von denen die meisten in den Papierkörben dieser Welt landeten.
Die Druckerei der Firma war in der Fleet Street angesiedelt, und dort fand Dr. Kissings Großvater glücklicherweise eine neue Anstellung als Ausfeger. Er brachte sich bei, wie man einen Besen mit einer Hand wirkungsvoller führt als die meisten Leute mit zweien, und da er großen Wert auf Höflichkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit legte, war er schon bald einer der geschätztesten Angestellten der Firma. Dr. Kissing hat mir einmal sogar erzählt, dass der Hauptteilhaber, der alte Joshua Butters Bacon persönlich, seinen Großvater aus Respekt vor seiner früheren Tätigkeit den ›Glöckner‹ zu nennen pflegte.
Als Dr. Kissing noch klein war, brachte sein Großvater oft ausrangierte Fehldrucke mit nach Hause. Dieses ›Buntpapier‹, wie er es nannte, war oft sein einziges Spielzeug. Er konnte die bunten Papierchen stundenlang immer wieder von Neuem ordnen, nach Farbabweichungen und anderen Unterschieden, die das ungeübte Auge gar nicht wahrgenommen hätte. Sein schönstes Geschenk, erzählte er, sei eine Lupe gewesen, die sein Großvater bei einem Straßenhändler erworben hatte, nachdem er den Ehering seiner eigenen Mutter für einen Shilling im Pfandhaus versetzt hatte.
Jeden Tag auf dem Weg zur Schule und wieder nach Hause fragte der Junge bei möglichst vielen Läden und Büros nach, ob er weggeworfene abgestempelte Umschläge haben und im Gegenzug den Bürgersteig fegen dürfe.
Nach und nach entwickelte sich aus dem ›Buntpapier‹ der Grundstock einer Sammlung, die einen König hätte neidisch machen können, und noch als er längst zum Rektor von Greyminster aufgestiegen war, hütete er die kleine Lupe von seinem Großvater wie einen Schatz.
›Die einfachsten Geschenke sind die schönsten‹, sagte er uns immer.
Der junge Kissing baute auf die in seiner schweren Kindheit erworbene Zähigkeit und hangelte sich von einem Stipendium zum anderen, bis der Tag kam, an dem der alte ›Glöckner‹ mit feuchten Augen miterleben durfte, wie sein Enkel seinen Abschluss in Oxford mit Auszeichnung bestand.
Nun gibt es natürlich jede Menge Sammler, die wider besseres Wissen davon überzeugt sind, dass die wertvollsten Briefmarken die fehlerhaften, beschädigten Exemplare sind, die bei jedem Druckvorgang unweigerlich als Abfallprodukte entstehen, aber das ist ein Trugschluss. Welche Summen diese Scheußlichkeiten auch erzielen mögen, wenn sie auf welchen Wegen auch immer auf den Markt kommen, für den wahren Sammler sind sie wertlos.
Nein, die eigentlichen Raritäten sind solche Marken, die offiziell oder anderswie auch in Umlauf gebracht werden, aber nur in sehr begrenzten Stückzahlen. Manchmal werden etliche tausend Marken ausgegeben, ehe ein Fehler auffällt, manchmal sind es nur ein paar hundert, wenn es nur einem einzelnen Bogen gelingt, das Schatzamt zu verlassen.
Aber in der ganzen Geschichte des Britischen Postministeriums ist es nur ein einziges Mal vorgekommen, dass sich ein Bogen so drastisch von seinen Millionen Artgenossen unterschied. Und das kam so:
Im Juni 1840 hatte ein geisteskranker Kellner namens Edward Oxford zwei Pistolen aus nächster Nähe auf Königin Viktoria und Prinz Albert abgefeuert, als sie in einer offenen Kutsche vorbeifuhren. Gnädigerweise verfehlten die Schüsse ihr Ziel, und die Königin, die damals im vierten Monat schwanger war, blieb unversehrt.
Das fehlgeschlagene Attentat wurde von manchen als Verschwörung der Chartisten interpretiert, andere hielten es für das finstere Treiben des Oranier-Ordens, der danach trachtete, den Herzog von Cumberland auf den englischen Thron zu setzen. An letzterer Theorie war mehr dran, als die Regierung
Im Herbst 1840 wurde ein Druckerlehrling namens Jacob Tingle in der Firma Perkins, Bacon & Petch eingestellt. Überaus ehrgeizig, kletterte er die Karriereleiter in beträchtlichem Tempo empor.
Seine Arbeitgeber wussten allerdings nicht, dass Jacob T ingle eine Figur in einem bitterernsten Spiel war, einem Spiel, das nur seine im Verborgenen agierenden Drahtzieher in vollem Umfang überblickten.«
Wenn mich etwas an der Geschichte überraschte, dann die Art und Weise, wie anschaulich Vater erzählte. Ich sah die Gentlemen mit ihren hohen, gestärkten Krägen und ihren Zylinderhüten, die Damen mit ihren Reifröcken und Hauben förmlich vor mir. Und so, wie die Gestalten in seiner Geschichte zum Leben erwachten, erging es auch Vater selbst.
»Jacob Tingles Auftrag war streng geheim. Er sollte, wie auch immer, einen Bogen, einen einzigen Bogen Penny-Black-Marken drucken und dabei eine leuchtend orangefarbene Druckfarbe benutzen, die man ihm eigens zu diesem Zweck ausgehändigt hatte. Das Farbglas hatte ihm, zusammen mit einem Vorschuss auf seinen Lohn für die Ausführung der Tat, ein Mann mit Schlapphut in einer Kneipe gleich neben dem Friedhof von St. Paul’s übergeben. Der Mann hatte in einer dunklen Ecke der Kneipe gesessen und nur heiser geflüstert.
Sobald er den Bogen heimlich gedruckt hatte, sollte Tingle ihn zwischen den ganz gewöhnlichen Bögen mit Penny Blacks verstecken, die darauf warteten, auf die Postämter in ganz
Früher oder später würde irgendwo in England ein Bogen mit orangefarbenen Briefmarken auftauchen, und wer Augen hatte, zu sehen, würde die Botschaft verstehen. ›Wir sind mitten unter euch‹, würden diese Marken verkünden. ›Wir bewegen uns ungehindert und ungesehen in eurer Mitte.‹
Das ahnungslose Postamt hätte keine Möglichkeit, die aufrührerischen Marken zurückzurufen, und sobald sie erst in Umlauf gekommen waren, würde sich die Kunde von diesem Handstreich wie ein Lauffeuer verbreiten. Nicht einmal die Behörden Ihrer Majestät würden den Vorfall mehr unter den Tisch kehren können. Die höchsten Regierungsebenen wären in Angst und Schrecken versetzt worden.
Nun war ein Geheimagent in die Reihen der Verschwörer eingeschleust worden, und obwohl seine Nachricht letztendlich zu spät kam, konnte er doch immerhin mitteilen, dass das Auftauchen der orangefarbenen Marken den Verschwörern als Startsignal zu einer neuen Welle von Attentaten auf die Mitglieder des Königshauses dienen sollte.
Es war ein raffinierter Plan. Falls er nicht wie gewünscht klappte, würden die Verbrecher einfach eine Weile abwarten und es noch einmal versuchen. Aber dazu bestand kein Anlass: Das Ganze lief ab wie ein Uhrwerk.
Am Tag, nachdem sich Jacob mit dem Fremden in der Kneipe getroffen hatte, brach in einer Gasse gleich hinter Perkins, Bacon & Petch ein verdächtiger Großbrand aus. Als die Drucker und das Büropersonal schaulustig ins Freie liefen, zog Jacob die orangefarbene Paste aus der Tasche, färbte die Platte mit einer Ersatzwalze ein, die er hinter den Chemikalienflaschen im Regal versteckt hatte, legte einen befeuchteten Bogen des mit Wasserzeichen versehenen Papiers darauf und druckte den Bogen. Es war fast zu einfach.
Ehe die anderen Arbeiter auf ihre Posten zurückkehrten,
Aber dann streute das Schicksal, wie so oft, Sand ins gut geschmierte Getriebe. Was die Verschwörer nicht hatten ahnen können, war, dass der Schlapphütige noch in derselben Nacht im Regen von einem durchgehenden Droschkengaul in der Fleet Street totgetrampelt werden würde und dass er sterbend zu seinem Kinderglauben zurückkehrte und den ganzen Plan - samt Jacob Tingle und allem Drum und Dran einem Bobby in einer Regenpelerine beichtete, weil er ihn für einen katholischen Geistlichen im Talar hielt.
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