Der zweite Weißkittel war einverstanden.»Gut. Fangen Sie an.«
Im Gesprächston entsprach ich ihrer Bitte.
«Ein einziges Gramm Uranerz enthält mehr als zwei Trilliarden Atome; das ist eine Zwei mit einundzwanzig Nullen dahinter. Unvorstellbar viel. Natürliches Uran ist im Vergleich zu einigen wirklich gefährlichen anderen Stoffen gar nicht mal besonders radioaktiv, aber schon ein, zwei Gramm, es braucht noch kein halber Teelöffel voll zu sein, geben pro Sekunde etwa dreißigtausend Alphastrahlen ab und hören noch in Millionen Jahren nicht damit auf. Wenn man ein paar Tage lang eine Dosis von dreißigtausend Alphastrahlen pro Sekunde abbekäme, würde man sich definitiv krank fühlen, aber ich denke, man würde sich definitiv wieder davon erholen.«
Ich brach ab. Ich fühlte mich definitiv krank, aber soweit ich wußte, war ich nicht mit Uran in Berührung gekommen. Jett sah mich erschrocken an, und Vera, die meinen Teil des Handels offenbar als erfüllt betrachtete, verschwand kurz und kam mit einem lederbraunen Hefter wieder, der mir haargenau so aussah wie derjenige, der bei den Unified Tradern für Aufregung gesorgt hatte.
Sein Inhalt bestand jedoch nicht aus zwanzig brieflichen Kauf- oder Verkaufsangeboten für eine angereicherte Form des Erzes, von dem ich gerade gesprochen hatte, sondern aus einem wissenschaftlichen Gutachten inklusive Diagramm über die radioaktiven Ausscheidungen einer zweijährigen Stute während ihrer mehrtägigen Rekonvaleszenz.
Zu der Zeit, als Vera auf die Idee mit der Strahlenkrankheit kam, waren die Meßwerte bereits rückläufig. Den Auslöser hatte die Stute wahrscheinlich sehr früh ausgeschieden, vielleicht schon mit der Diarrhöe an jenem ersten Sonntagnachmittag, als sie stöhnend am Boden ihrer Box in Quigleys Stall lag.
Als liebenswürdige Geste überreichte Vera mir noch ein Päckchen von der Größe eines Schuhkartons, mit der Bitte, es nicht in kultivierter Gesellschaft zu öffnen. Zinnia wies immer noch mißbilligend darauf hin, daß der Kartoninhalt Eigentum des Forschungsinstituts oder allenfalls Caspar Harveys oder womöglich auch der Stute sei, auf keinen, auf gar keinen Fall aber mir gehöre.
Ich stand unvermittelt auf und fragte, wo es zur Toilette ging, hörte durch die hinter mir zufallende Tür, wie Jett den beiden Weißkitteln dankte und auf Wiedersehen sagte, und bald darauf saß ich immer noch mitgenommen neben ihr im Auto, auf der Rückfahrt zu Loricrofts Stall.
«Ist es das, was mit dir los ist?«fragte Jett besorgt.
«Strahlenkrankheit? «
«Du hast die Symptome.«
«Ich weiß es nicht.«
Sie hielt auf Loricrofts Kieseinfahrt. Es war niemand zu sehen.
«Keine Widerrede«, sagte sie.»Ich gehe mit dir ins Haus.«
Ich fühlte mich ohnehin zu mies, um Einwendungen zu machen. Jett und ich stiegen aus, gingen entschlossen über den Kies und tippten nur kurz an den Türklopfer, bevor wir in die Küche traten.
George Loricroft selbst war zu meiner großen Erleichterung nicht da. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, mich körperlich mit ihm auseinandersetzen zu müssen, und von meiner schlauchenden, anhaltenden Übelkeit ganz abgesehen, war George größer, kräftiger und hatte schon einmal versucht, mich loszuwerden.
Die einzige Anwesende, Glenda, saß nervös zitternd an dem großen Eßtisch und war blaß und grau im Gesicht. Sie atmete sichtlich auf, als sie sah, wer gekommen war.
«George ist nicht da«, sagte sie.»Er wollte noch mit dem zweiten Lot zum Training auf die Heide.«
Ihre Stimme klang matt, leblos.
«Und Bell?«fragte ich.
Glenda saß regungslos da, nicht einmal ihre steifen Wimpern bewegten sich. Sie trug zwar noch die Sexfallenstaffage wie den zu engen Pullover, klappernde hohe Hacken und das voluminöse blonde Glitzerhaar, aber sie schien eine andere zu sein. Die Frau, die Oliver Quigley in Rage gebracht und ihm die Maske des Nervenbündels abgerissen hatte, hielt jetzt die Zügel in der Hand, nur war sie an die Rolle noch nicht ganz gewöhnt.
«Bell ist nach Hause, einen Koffer packen«, sagte sie schließlich.»Sie will dann wiederkommen und mich mitnehmen.«
Nach einer Pause fragte ich Glenda, ob sie mit George über die frostigen Unstimmigkeiten auf meiner Liste gesprochen habe.
«Gesprochen!«Sie lachte beinah.»Das hatte überhaupt nichts mit Frauen zu tun, wissen Sie. «Laut und bitter, als wünschte sie, es wäre anders.»In Baden-Baden ist seit September kein Pferderennen abgehalten worden.«
Ich nickte. Ich hatte es nachgesehen.
«George hat sein Land verraten«, erklärte sie, und ich meinte leise:»Dramatisieren Sie da nicht ein wenig?«
«Er weiß, daß ich so denke. Ich fahre mit Bell nach London, weil ich nicht hier sein möchte, wenn er wiederkommt. Sie haben ganz recht, wenn Sie glauben, ich hätte Angst vor ihm, und jetzt erzähle ich Ihnen was, wovon ich nie gedacht hätte, daß es über meine Lippen kommt.«
Sie schluckte, schwieg, nahm ihren Mut zusammen.
«Er hat mich nicht in jeder Stadt mit einer Frau betrogen, sondern er hat Atomgeheimnisse gekauft und verkauft.«
Fairerweise sei gesagt, daß sie sich ehrlich empört anhörte.
«Und einmal«, noch entrüsteter,»einmal brachte er ein schweres kleines Päckchen mit nach Hause, und weil ich dachte, es sei Gold — Goldschmuck für eine Frau —, war ich außer mir…«
Sichtlich aufgebracht zog sie die Luft ein.»Wie konnte er nur… wir hatten immer guten Sex… Ich habe das Päckchen aus seiner Aktentasche genommen und aufgemacht, und es war nur ein schweres graues Kästchen drin. Das hab ich dann auch aufgemacht und unter lauter Styroporkugeln ein grobes graues Pulver entdeckt, ein winziges bißchen, aber es war in Seidenpapier eingeschlagen, und das hab ich nicht mehr so hingekriegt, wie es war, und dann kam George ins Zimmer.«
«Und er hat gemerkt, daß Sie an dem Päckchen gewesen waren?«fragte ich, als sie einen Moment Luft holte.
«Nein, aber ich hatte Angst, er würde es merken, weil er sich da rumdrückte, und das Zeug war noch nicht wieder im Kasten, also hab ich’s schnell in meine Handtasche gesteckt, mit dem Seidenpapier, und da war es noch, als wir am Tag vor Caspar Harveys Lunch auf dem Weg zum Pferderennen in Nottingham bei Oliver Quigley vorbeifuhren. Das Seidenpapier… fiel mir aus der Tasche, als ich meinen Lippenstift suchte, und das Pulver landete in einem Futtermaß voll Hafer, das da für eins von Olivers Pferden am Boden bereitstand. Das war keine Absicht von mir, und ich wußte nicht, daß das Pferd davon krank wird. Aber ich hab George nichts gesagt, weil ich Angst vor ihm hatte. Ich hab das auf sich beruhen lassen.«
«Und«, fragte ich restlos verblüfft, aber überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte,»haben Sie gesehen, welches Pferd das Maß bekam?«
Sie sah mich mit großen Augen an und sagte:»Nein.«
«Glenda!«protestierte ich.
«Na schön, Sie haben’s erraten. Ich habe gesehen, an welche Box es ging, aber ich wußte nicht, daß es die Box von Caspar Harveys Stute war. Darauf kam ich erst, als Bell meinte, die Stute sei vielleicht strahlenkrank, und da ging mir dann auch auf, was George wahrscheinlich trieb auf seinen Reisen. Zeug zum Bombenbauen kaufte er, deshalb bat ich Sie zu prüfen, was an seinen Geschichten dran war. Und jetzt wünschte ich wirklich, Bell würde sich beeilen.«
Das wünschte ich auch.
«Wußte George in Doncaster, daß ich vorhatte, die Wetterdiskrepanzen zu prüfen?«fragte ich Glenda.
«Und ob. Das hatte ich ihm gesagt. Wenn er wußte, daß ihn noch jemand anders verraten konnte, war ich vor ihm sicher.«
Glenda war auch in der neuen, nicht so gelackten Version immer noch viel zu naiv. Ich verspürte immer weniger Lust, bei George im Haus zu sein, wenn er zurückkam, aber schließlich erschien Bell und sagte, sie habe gepackt, mit ihrem Vater gezankt und Kris per Anruf überredet, sie bei sich einziehen zu lassen.
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