Sie sagte:»Um was geht’s eigentlich?«, während sie in ein halbleeres Päckchen Rosinen langte und mir auch welche anbot, die ich aß.
«Thomas hat Berenice verlassen. Er braucht ein Bett.«
«Nicht hier«, protestierte sie.»Nimm ihn mit zu dir.«
«Tu ich, wenn du ihn nicht willst, aber hier wäre es besser für ihn.«
Sie sagte, ihr Sohn, mein Neffe, sei oben in seinem Zimmer bei den Hausaufgaben.
«Thomas wird ihn nicht stören«, sagte ich.
Sie sah mich zweifelnd an.»Du verschweigst mir etwas.«
«Thomas«, sagte ich,»hat gerade den Rest bekommen. Wenn ihn nicht jemand gut behandelt, landet er im Irrenhaus oder in der Selbstmordstatistik, und wohlgemerkt, ich scherze nicht.«
«Tja…«
«Das ist mein Mädchen.«
«Ich bin nicht dein Mädchen«, sagte sie bissig.»Vielleicht bin ich das von Thomas. «Ihr Gesicht wurde etwas sanfter.»Also gut, er kann bleiben.«
Sie aß noch eine Handvoll Rosinen und kehrte ins Wohnzimmer zurück, und wieder folgte ich ihr. Edwin hatte den zweiten Sessel belegt. Lucy ließ sich auf einem Lederhocker nieder, so daß ich erst mal stehenbleiben und mich umschauen mußte. Es gab keine Sitzgelegenheiten mehr. Resigniert hockte ich mich auf den Boden und lehnte meinen Rücken an die Wand. Lucy und Edwin nahmen es schweigend hin. Keiner von beiden hatte mich gebeten, Platz zu nehmen.
«Da ich schon mal hier bin«, sagte ich,»kann ich ebensogut die Fragen stellen, derentwegen ich morgen vorbeikommen wollte.«
«Wir möchten aber nicht antworten«, sagte Edwin.»Und wenn du Blut an die Tapete schmierst, darfst du die Renovierung bezahlen.«
«Die Polizei wird kommen«, sagte ich und drehte mich etwas aus der Gefahrenzone.»Warum übt ihr nicht mit mir. Sie wird nach der Schaltuhr fragen, die die Bombe in Quantum gezündet hat.«
Thomas merkte auf.»Die ist von mir, weißt du. Die Mickymausuhr.«
Es war das erste, was er sagte, seit wir sein Haus verlassen hatten. Lucy machte ein Gesicht, als glaubte sie, er rede im Fieber, dann hob sie die Brauen und begann sich zu konzentrieren.
«Nur das nicht«, meinte sie besorgt.
«Erinnerst du dich an die Uhren?«fragte ich.
«Natürlich. Oben liegt eine, die Thomas für unseren Sohn gebaut hat.«
«Was hat sie für ein Zifferblatt?«
«Ein Segelschiff. Kam die Explosion durch die Mickymausuhr…?«
«Nein«, sagte ich.»Die tatsächlich benutzte hatte ein graues Blatt aus Plastik mit weißen Ziffern. Die Mickymausuhr war unversehrt im Spielzimmer.«
Thomas sagte dumpf:»Ich hab seit Jahren keine mehr gebaut.«
«Wann hast du die Mickymausuhr für Robin und Peter gebastelt?«fragte ich.
«Die war nicht für sie. Die habe ich vor langer Zeit für Serena gemacht. Sie wird sie ihnen geschenkt haben. Ich hatte sie damit zum Lachen gebracht.«
«Du warst ein netter Junge, Thomas«, sagte Lucy.»Lustig und freundlich.«
Edwin sagte unruhig:»Ich hätte gedacht, daß ein Zeitschalter von solch einer großen Bombe bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt wird.«
«Anscheinend finden sie oft Einzelteile«, sagte ich.
«Heißt das«, wollte er wissen,»die haben tatsächlich die ganzen Trümmerberge durchgesiebt?«
«Mehr oder minder. Sie wissen, daß es eine Batterieuhr war. Sie haben ein Stück vom Antrieb gefunden.«
«Geschieht Malcolm recht, daß das Haus gesprengt worden ist«, sagte Edwin mit kaum unterdrückter Heftigkeit.»Verschleudert sein Geld in albernen Stipendien. Uns hält er arm. Du bist wahrscheinlich fein raus, wie?«Das war offener Hohn für mich.»Er ist nie fair gewesen zu Lucy. Immer stehst du im Weg, tust ihm schön, kassierst den Löwenanteil. Er gibt dir alles, was du willst, während wir uns mit einem Almosen durchschlagen müssen.«
«Ist das Originalton Vivien?«fragte ich.
«Es ist die Wahrheit!«
«Nein«, sagte ich.»Es ist das, was du immer und immer wieder zu hören bekommst, aber es ist nicht die Wahrheit. Die meisten Leute glauben eine Lüge, wenn sie ihnen oft genug erzählt wird. Es ist ja schon leicht, eine Lüge zu glauben, die man nur einmal hört. Besonders, wenn man sie glauben will.«
Lucy sah mich aufmerksam an.»Dich beschäftigt das, hm?«
«Daß ich ewig zum schwarzen Schaf gekürt werde? Ich glaube schon. Aber ich dachte auch an Thomas. Er hat fortwährend gesagt bekommen, daß er zu nichts nütze ist, und nun glaubt er es. Ich gehe jetzt, Lucy. «Ohne Eile stand ich auf.»Sag Thomas immer und immer wieder, daß er ein wertvoller Mensch ist, und vielleicht fängt er an, statt dessen daran zu glauben. Man muß an sich glauben, wenn man etwas erreichen will.«»O ja«, sagte sie leise.»Das muß man.«
«Was du geschrieben hast«, sagte ich,»bleibt.«
Ihre Augen weiteten sich.»Woher weißt du… daß ich nicht mehr.«
«Ich hab’s vermutet. «Ich beugte mich vor und küßte sie zu ihrer Überraschung auf die Wange.»Seid ihr ernstlich im Druck?«
«Finanziell?«Sie war verblüfft.»Nicht schlimmer als sonst.«
«Aber selbstverständlich«, giftete Edwin sie an.»Du verdienst doch fast nichts mehr und gibst noch immer ein Heidengeld für Bücher aus.«
Lucy schien den Vorwurf zu kennen, denn sie wurde kaum verlegen.
«Wenn es nach mir ginge«, maulte Edwin,»würdest du die Bibliothek benutzen, wie ich auch.«
«Warum arbeitest du nicht, Edwin?«fragte ich.
«Lucy mag keine Hektik. «Offenbar hielt er das als Erklärung für ausreichend.»Wir wären vollkommen glücklich, wenn Malcolm Lucys Treuhandfonds verdreifachen würde, wie es sich gehört. Er hat Millionen, wir leben in einer Hütte. Das ist nicht fair.«
«Verachtet Lucy nicht das Geld?«fragte ich.»Und Leute, die es haben? Willst du, daß sie zu dem wird, was sie verachtet?«
Edwin funkelte böse.
Lucy sah mich freundlich an.»Es gibt eben keinen Idealzustand«, sagte sie.
Ich fuhr nach Reading ins Stadtkrankenhaus, dessen Unfallstation den ganzen Abend geöffnet war, und ließ mir die Schulter und den Oberarm desinfizieren und nähen. Anscheinend waren es drei unterschiedlich tiefe, aber harmlose
Wunden, und sie bluteten längst nicht mehr: Mit der Naht würden sie rasch heilen. Fürs erste empfahlen mir die Ärzte Schmerztabletten. Ich dankte ihnen, fuhr dann mehr als nur ein bißchen müde, vor allem aber hungrig zurück nach Cookham, und nachdem Hunger und Müdigkeit einigermaßen behoben waren, zog ich am nächsten Morgen wieder los zum Reiten. Mit den genähten Wunden gab es dabei kein Problem; sie waren empfindlich gegen Berührung und steif, wenn ich den Arm hob, aber weiter nichts.
Auch seelisch wiederhergestellt durch die Dosis frischer Luft, gönnte ich mir einen Tag Urlaub von dem familiären Psychokrieg und fuhr nach London, um meine Visa für Amerika und Australien zu besorgen. Erst eine Woche war vergangen, seit ich Park Railings in Cheltenham geritten hatte, und es kam mir vor wie die Ewigkeit. Ich kaufte einen neuen Pullover, ging zum Friseur und dachte an Ursula, die an den Tagen, wo es sie zur Flucht trieb, hier» umherwanderte«. In London konnte man stundenlang wandern und seinen Gedanken nachhängen.
Aus einem Impuls heraus rief ich Joyce an, obwohl ich nicht erwartete, daß sie zu Hause war.
«Ian«, schrie sie,»ich muß weg. Zum Bridge. Wo bist du?«
«In einer Telefonzelle.«
«Wo ist dein Vater?«
«Weiß ich nicht.«
«Ian, du machst mich rasend. Weshalb rufst du an?«
«Wahrscheinlich… bloß um deine Stimme zu hören.«
Das verblüffte sie offenbar total.»Hast du sie noch alle? Sag dem Alten… sag ihm. «Sie stockte.
«Du seist froh, daß er noch lebt?«schlug ich vor.
«Laß ihn von niemand in die Luft sprengen.«
«Nein«, sagte ich.
«Muß flitzen, Ian. Brich dir den Hals nicht. Tschüs.«
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