«Ich auch nicht«, sagte ich.
«Ich habe Leute sagen hören, er sehe am nettesten aus, wenn er am grausamsten sei. Das habe ich zum ersten Mal gehört, als ich noch klein war.«
«Ist er dir gegenüber grausam?«
«Nein. Nur. kalt. Aber er ist mein Vater.«
«Ja.«
«Ich glaube, ich möchte es Ihnen sagen. aber ich kann nicht.«
«Ist schon in Ordnung.«
Wieder verging viel Zeit. Sein Atem und seine Bewegungen verrieten, daß er wach war und daß die Gedanken nur so in seinem Kopf herumschwirrten.
«Mr. Cleveland? Sind Sie noch wach?«
«David«, sagte ich.
«David. glauben Sie, er wollte, daß diese Männer mich umbringen?«
«Nein, das glaube ich nicht.«
«Er hat ihnen gesagt, wohin sie mußten. Er hat mir gesagt, daß ich nach Finse fahren soll. Er hat Arne Kristiansen gesagt, daß er nach Finse fahren soll. Und diesen Männern.«»Das hat er«, sagte ich.»Aber ich glaube, sie haben die Wahrheit gesagt. Ich glaube, er wollte, daß sie dich aus dem Land bringen, sobald sie mit Arne fertig waren. Ich denke, es war sehr ungeschickt von ihnen, dich mit ansehen zu lassen, wie sie Arne angriffen, aber sie haben halt mehr Kraft als Verstand, diese beiden. Arne ist der einzige, der vor Gericht schlüssige Beweise gegen deinen Vater vorlegen könnte, und dein Vater ist skrupellos genug, ihn umbringen zu lassen, um das zu verhindern.«
«Warum. warum glauben Sie das?«
«Weil er diese beiden Männer auch auf mich angesetzt hat.«
Ich erzählte ihm von dem Boot auf dem Fjord, von dem Messer in Chelsea, von der Bombe in Eriks Auto.
«Es sind schreckliche Männer«, sagte er.»Als ich sie zum ersten Mal sah, haben sie mir gleich angst gemacht.«
Er verfiel wieder in Schweigen. Ich konnte fast spüren, wie er dachte, litt, wie es in ihm gärte.
«David?«
«Ja?«
«Es ist meine Schuld, daß Bob sterben mußte.«
«Bestimmt nicht.«
«Aber wenn ich meinem Vater nicht erzählt hätte, daß Bob eine Bohrkernanalyse mitgebracht hatte.«
«Dann hätte Arne es ihm erzählt«, erklärte ich kategorisch.
«Mit diesem >Wenn< kannst du endlos weitermachen: Wenn Bob das Päckchen nicht geöffnet hätte. Wenn dein Vater nicht so skrupellos gewesen wäre, sich seiner zu entledigen. Aber alle diese Dinge sind nun mal geschehen. Und sie sind alle nur deshalb geschehen, weil dein Vater ebenso habgierig wie stolz ist, was immer eine fatale Kombination abgibt. Aber er hat als junger Mann außerdem noch gelernt, wie man ein Leben im Verborgenen führt. Damals, unter den Nazis, da war das gut.
Alle bewunderten ihn. Ich glaube, er hat noch heute das Gefühl, daß alles, was gegen die Staatsgewalt unternommen wird, mutig und deshalb richtig ist. Ich glaube, er hat an die Stelle der Nazis die Polizei gesetzt. als Feind, den es zu überlisten gilt. Er denkt blitzschnell, bei Verhören verrät er nichts, er nimmt ganz kühl ungeheure Risiken auf sich, er arrangiert gnadenlos den Tod anderer Menschen. Er handelt noch immer so wie damals, als er zwanzig war. Und er wird es auch weiterhin tun.«
Die Zeit ging dahin.
«David.«
«Ja?«
«Ich muß es Ihnen erzählen«, sagte er.
Ich holte tief Luft. Sie füllte meine Lungen mit Eiseskälte.
«Na los«, sagte ich.
Er schwieg wieder. Dann sagte er:»Ich sprach während der Rennen mit Bob. Er lachte und meinte, es sei alles geregelt, Arne würde ihn nach den Rennen zum Flughafen fahren und ihm für das Päckchen noch eine Extrasumme zahlen.«
Er verstummte.
Ich wartete ab.
Dann war seine Stimme wieder zu hören, zunächst zögernd, aber dann entschlossen.
«Als die letzten Rennen geritten wurden, war es schon dunkel. Ich ging danach zum Auto, um dort auf meinen Vater zu warten. Er verspätet sich oft, weil er Mitglied des Rennausschusses ist. Ich saß im Auto und wartete auf ihn. Während der Rennen hatte ich kein Wort mit ihm gewechselt. Meistens sehe ich dort nicht viel von ihm. Er ist immer so beschäftigt.«
Er schwieg erneut. Sein Atem ging jetzt schwerer, ungleichmäßiger.
«Die meisten Autos fuhren davon. Dann kamen zwei Leute vorbei, im Scheinwerferlicht eines wegfahrenden Autos konnte ich sehen, daß es Bob und Arne waren. Ich wollte sie rufen. ich wünschte, ich hätte es getan. aber ich konnte das Fenster nicht so schnell runterkurbeln. und dann waren sie schon bei Arnes Wagen. Sie standen sich gegenüber und sprachen miteinander. Ich konnte sie nur ab und zu sehen, nämlich dann, wenn die Scheinwerfer eines heimfahrenden Autos in ihre Richtung strahlten. Ich sah, wie sich ein anderer Mann Bob von hinten näherte und den Arm hob. Er hatte etwas Glänzendes in der Hand. Dann ließ er es herabsausen.«
Er hielt inne. Schluckte ein bißchen. Fuhr fort:»Als ich das nächste Mal wieder etwas sehen konnte, waren nur noch zwei Männer da. Ich dachte. ich konnte es einfach nicht glauben… Und dann drehte sich einer der beiden um und kam auf unser Auto zu. Ich hatte eine Wahnsinnsangst.«
Er zitterte heftig.
«Aber er öffnete nur den Kofferraum und warf etwas hinein, was klirrte. Danach setzte er sich hinter das Steuer und. lächelte.«
Es entstand eine lange Pause.
«Danach«, fuhr der Junge schließlich fort,»bemerkte er, daß ich neben ihm saß, und war ganz erstaunt. Und er sagte. er sagte. >Mikkel! Ich habe völlig vergessen, daß du bei den Rennen warst.««
In seiner Stimme lag tiefer Schmerz.
«Er hatte mich vergessen. Mich ganz vergessen.«
Er war bemüht, nicht in Tränen auszubrechen.
«Mein Vater«, sagte er.»Mein Vater hat Bob Sherman umgebracht.«
Bei Tagesanbruch gingen wir nach Finse hinunter — Mikkel glitt auf seinen Skiern leicht dahin, während ich in meinen Slippern nur knirschend und rutschend vorankam. Ähnlich waren wir uns nur darin, daß ich wie er blaugraue Ringe um die Augen, Vertiefungen an den Mundwinkeln und insgesamt das Aussehen eines äußerst müden Menschen hatte. Mikkel hatte in der Nacht nicht mehr viel gesagt. Irgendwann hatte er seinen Kopf an meine Schulter gelegt und war erschöpft eingeschlafen, doch früh am Morgen, als er aufgewacht war, hatte er ruhig und unbeschwert gewirkt, so als hätte ihn das Sprechen über das Grauen, mit dem er acht lange Wochen gelebt hatte, auf stille Weise davon befreit.
Ich ließ ihn bei den warmherzigen, tröstlich wirkenden Bewohnern von Finse und bestieg noch einmal in Begleitung einiger Männer des Ortes den Berg. Diesmal hatte auch ich Skier an den Füßen und schurrte laienhaft den Hang hinauf. Oben warteten die Männer auf mich und machten Scherze. Sie hatten fröhliche Gesichter und ein sorgloses Lächeln. Und die Sonne kam fahl hinter den Wolken hervor — es war das erste Mal, daß ich sie hier in Norwegen zu Gesicht bekam.
Wir erreichten die Hütte und liefen an ihr vorbei bis zu jenem Punkt, wo sich der Pfad in einer ebenen Schneefläche verlor. Zwei der Männer zogen einen Schlitten, ein gewichtsloses Gefährt, das auf skiähnlichen Kufen leicht dahinglitt. Grad so einer, wie ihn die alte Berit habe, sagten sie.
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